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Dienstag, 23.9.03.

Ich erfahre von einem jungen Spediteur, daß die Bullen stinken und von einem polnischen LKW-Fahrer, daß der BGS stinkt. Von Pegnitz nach Holledau nimmt mich ein Biotech-Forscher mit, der gerade für OLYMPUS in Dresden auf einer Messe war. Wir unterhalten uns über die Vergrößerungsmöglichkeiten, die sich in den letzten zehn Jahren erheblich verbessert haben. Ich frage, ob dann die These endlich verifiziert worden wäre, daß es unterhalb des zellularen Lebens keine Übergangsformen gäbe. (Das liegt mir altem Reichianer natürlich besonders am Herzen) Er sagt, das ließe sich mit den neuen Farbstoffen und der irrsinnigen Auflösung sicher bewerkstelligen, gemacht hat es aber niemand, weil da ist ja nichts. Wie immer eben. Ich fasse den Beschluß, den Berliner Orgonomen mal einen diesbezüglichen Besuch abzustatten und entwickle danach die These, daß wir in einer Zeit leben, in der mit brute-force-Rechenaktionen Dogmen wirklich kippen können. Carotta vergleicht historische Texte mit dem Rechner, DeMeo erfaßte auf demselben Weg riesige Datenmengen über die Klimageschichte der letzten 10000 Jahre, Fomenko gründet seine Geschichtsverkürzungen auch auf Statistik und elektronische Rechenleistung. Und Rechenleistung ist nur eine Frage der Vernetzung...
Vom letzten Rasthof vor München nimmt mich ein italienisches Pärchen mit, er mit Al-Bano-Brille, sie ist eigentlich aus Nigeria und heißt Beauty. Bei nigerianischer Folklore wird mir nahegelegt, an Gott zu glauben und Hoffnung zu haben, zur Untermauerung lerne ich sodann, daß ein Joint auf italienisch spinello heißt. Nach einigen spinelli wird auch die Musik immer bekiffter (Café de flore à Paris), ich glaube immer noch nicht, erfreue mich aber an den kleinen Portiönchen Alpen, die im Dunst und der Dunkelheit zu erkennen sind, sowie an den größeren Portionen Schokoladenmuffins von der ersten italienischen Raststätte.
Irgendwo in Südtirol werde ich morgens um drei ausgekippt, weil sie weiter nach Milano fahren. Da es regnet, sage ich: "I'm a hitch-hiker, I stop all these cars. Maybe I can stop the rain. I just have to raise my thumb in the air." Ich experimentiere ein bißchen herum und lege mich dann an der Ausfahrt schlafen.

Mittwoch, 24.9.03.

Morgens wecke ich mich mit göttlichem Espresso - das ist nur das, was es an der Tanke gibt...
Mich nimmt ein Südtiroler Geologiestudent mit, der wegen der Sprache in Innsbruck studiert. Wir reden über Berlusconi und die DDR, schließlich über meine abstrusen Geschichtstheorien. Er referiert mir die Grundprinzipien der Geologie und wir entwickeln einen recht tragfähigen Kritikansatz. Wir haben ja auch genug Zeit bis hinter Bologna.
It goes like this: Die Erfassung der Gegenwart und ihrer physikalischen, biologischen und sozialen Bedingungen funktioniert erst, seit wir uns auf internationale Meßkriterien geeinigt haben und sie auch auswerten können (ADV, ick hör dir schon wieder trapsen...) Das metrische System, die Isotopen-Zerfallsmessungen, die Soziologie - alles noch nicht so alt. Daten von vorher sind mit höchster Vorsicht zu genießen und eigentlich kaum verwendbar.
Beinahe jede Betrachtung der Vergangenheit beruht also auf diesen heutigen Messungen und ihrer Rückprojektion, wobei die gewünschte Entwicklung die Daten bestimmt. In der Biologie und der Geschichte herrscht das Bild einer exponentiellen Entwicklung vor, so daß rückwirkend entsprechende Zeitdehnungen veranschlagt werden, die mit Messung nichts, mit Glauben sehr viel zu tun haben. Die ermittelten Abfolgen dürften oft noch stimmen, ihre chronologische Einordnung ist aber reine Religion. In der Geophysik und der ausgrabungsorientierten Archäologie herrscht wiederum das Axiom, das Dogma, der Glaubenssatz, daß bestimmte Konstanten als Verhältnisgrößen durch die gesamte Entwicklung oder weite Phasen benutzt werden können. Das ist eine unbewiesene Behauptung, die sich bei organischen Strukturen überhaupt nicht halten läßt (C14-Methode), bei anorganischen das simple Dilemma der Relation übrigläßt.
Satz 1: Die exponentielle Entwicklung von Leben und Menschheit (Jumping Jesus Phenomenon) und die konstante Entwicklung physikalischer Größen ergeben zusammen unser Geschichtsbild. Tja, ganz lustig, was ihr da macht, aber ihr wirkt auf mich wie ausgedacht.
Zur Beschreibung der Gegenwart eignen sich diese Kurven noch recht gut: wir haben es mit exponentiellem technologischem Wachstum zu tun, die physikalischen Kenngrößen sind für den begrenzten Beobachtungszeitraum recht verläßlich. Für die Geschichte ist das alles albern.
Satz 2: Die Geschichtsschreibung einer Epoche sagt mehr über die Epoche als über die Geschichte.
Danach geht es im Auto eines deutsch-italienischen Handelsvertreters wieder um die DDR und den Sozialismus, dem in Italien seiner Auskunft viele Leute nach wie vor sehr aufgeschlossen gegenüber stehen.
Im LKW eines ständig auf die Polizei schimpfenden Fahrers mit Familie in Deutschland fahre ich dann durch das größte mir bekannte Freiluftmuseum, die Region Abruzzo. Es ist, als sähe man das antike Rom. Die Häuser, die Bögen, die Mosaike, die Tore, die Hecken und vor allem die bis in die letzten Winkel der teils konkaven Hügel peinlichst gepflügten Gärten, die Kirchen und die geraden Linien. Sie leben drin und bauen es immer noch nach, so wie wir unsere Fachwerkbauten und Klöstergärten. Der Unterschied ist das angenommene Alter: die Italiener leben 2000 Jahre in der Vergangenheit, wir vielleicht 700. Was stimmt hier nicht?
Im drittletzten Auto wird mir in sehr magerem Englisch bedeutet, daß ich mit dem Verlassen des Kreises Pescara ins unwirtliche Apulia vorgedrungen bin: Bad place, mafia. Der junge Türenmacher fragt mich, ob ich was zum Kiffen dabei habe, dann ist sein englischer und mein italienischer Wortschatz erschöpft.
An der folgenden stazione werde ich von der Betankerin gleich gefragt, wo ich herkomme und wo ich hin will. Sie würde mir dann was vermitteln. Dazu kommt es nicht, ich spreche zwei solariumsgebräunte Muskelmänner mit Wiesbadener Kennzeichen an, die mich bis nach Foggia mitnehmen und sich als Teil der Mafia bezeichnen. Erscheint mir wie Pose, könnte aber auch stimmen. Ich bekomme leckeres Gebäck und Saft und sitze im schnellsten Auto meines Italienaufenthaltes.
Von der Abfahrt Foggia nimmt mich ein Pärchen in den Vierzigern mit und versteht wieder nicht viel - so wie ich. Nach Troia fährt aber ein Vorortbus, das wissen sie und setzen mich am Bahnhof (ebenfalls stazione) ab. Das Ticket kommt 1,50, im Bus sitzen intriguingly schöne Frauen, leider ist es mittlerweile schon dunkel (etwa um 8), so daß ich von der Landschaft nicht viel mitbekomme.
Troia ist eine Offenbarung. Während die Geschichtsschreibung glaubt, das legendäre Troia wäre eine der vom Hochstapler Schliemann ausgebuddelten Städte in der Nordwesttürkei, in denen jedoch kein Hinweis auf diesen Namen zu finden ist (sie heißen Ilion oder gar nicht), gibt es hier ein immer so benanntes Troia auf einem strategischen Hügel, mit einer steinalten Hauptstraße voller Museen und religiöser Gebäude. Am verräterischsten die Basilika, deren Tor zwar im 12. Jahrhundert eingefaßt und nachverziert sein könnte, sicher aber eher gegossen wurde. Es ist aus Bronze und übersät mit gefiederten Schlangen, denen Piercingringe durch die Löwenmäuler getrieben wurden.

Troia Basilica Porta Laterale

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Ich berausche mich an der Stadt und werde Zeuge der klischeehaftesten Nettigkeit, die man sich vorstellen kann. Ja, als die Geschäfte schließen, bleiben die Inhaber noch auf Holzstühlen und Steinbänken davor sitzen und plaudern mit Vorbeilaufenden. Ja, alle kennen und grüßen sich. Ja, der Kaffee ist der Hammer. Ja, alle sind so modisch gekleidet, daß ich auffalle wie ein Wessi in Marzahn - oder eher wie ein Ossi in Stuttgart.
Ich versuche, irgendjemanden zu finden, der deutsch, englisch, französisch oder meinetwegen russisch spricht und werde also abwechselnd für einen Westdeutschen, einen Ami, einen Franzosen oder einen Asiaten gehalten. Keiner versteht ein Wort. Ich bestelle in der Bar von Vitorio einen Vodka und bekomme einen Teebecher voll.
Schließlich werde ich doch noch einquartiert, dabei für einen Ami gehalten und wegen des deutschen Passes dann kurz der Unlauterkeit verdächtigt. Am Ende darf ich auf dem Bett liegen und Berlusconi-Fernsehen schauen. Nun ja.

Donnerstag, 25.9.03.

Nach einer Nacht mit klapperndem Rolladen und davor jaulenden Hunden laufe ich noch mal durch die Hauptstraße und kaufe Fotos und ein italienisches Buch - in fremden Sprachen gibt es weder im thologischen Seminar noch in den Museen irgendetwas. Weiterhin kann niemadn eine adere Sprache als Italienisch.
Das Bild rundet sich ab: zu der 50 Kilometer entfernten Adriabucht von Manfredino fließt ein Fluß von Troia aus, das Meer ist trotz der Entfernung und des Wetters gut zu sehen. Die Ähnlichkeiten zum homerischen Schlachtplatz sind also nach wie vor enorm. Ich denke darüber nach, daß nicht nur die Geschichtswissenschaftler und Archäologen mir für meine These aufs Dach steigen würden, sondern, daß
Ich fahre mit dem Bus zurück nach Foggia und bei Lichte besehen demonstriert die Landschaft, daß der wundervolle römische Gartenbau gegen die Wüste machtlos ist. Es scheint hier die gleiche Pflege und die gleiche Kultur gegeben zu haben wie weiter nördlich, allein, es sieht aus wie drübergelaufen. Ich werde eine soziale Bewegung initiieren, die sich gegen die Wüste stemmt. Die Idee ist, geschichtliche Fundstücke zu sammeln und auszuwerten, um die Geschichte der Wüste zu verstehen. Dann würden vielleicht die netten Katholiken auch nicht ganz so kraß ihrer Religion entäußert werden. Das Ganze könnte sich sauber als Vertiefung der wissenschaftlichen Methode verstehen und müßte sich daran messen lassen, ob die Wüste zurückgedränt werden kann oder nicht. In Berlin hieße die Bewegung: Blühendes Berlin. In Dresden eben: Blühendes Sachsen. In England könnte es knifflig werden, weil _blooming_ nun mal auch _verdammt_ heißt.
Ein 24jähriger französischer LKW-Fahrer auf dem Rückweg nach Toulouse liest mich an der tangenziale auf, zu der ich fünf Kilometer durch den Staub gelaufen bin. Nach einer Stunde baut er eine Tüte, ich mache ein paar Bilder vom Meer und den römischen Gärten mit seiner Einwegkamera. Er schreibt sich meine Adresse auf, um mir ein paar der Fotos zu schicken.
Im Laufe des Abends wird mir immer bewußter, daß ich in Italien kaum von Italienern mitgenommen wurde. Daß sich die Unkenntnis fremder Sprachen durch die Unkenntnis des Tampens zu ergänzen scheint. Das bleibt mir ein Rätsel. Ich muß jedem Fahrer satzweise aus der Nase ziehen, wo er hin will. Jedesmal denken sie, sie müßten genau dahin fahren, wo ich hinwill. Erst nach einigem Hin und Her wird dann klar - und solange unterhalten sie sich meist gar nicht mit mir - daß ich mit 100 Kilometern in meine Richtung sehr glücklich bin.
So lande ich nachts um eins an einer stazione bei Mantova, abgesetzt von einem Albaner natürlich, und lasse mich nach zwei Stunden fruchtloser Diskussion darauf ein, mich von einem Franzosen auf die Milano-Autobahn mitzunehmen.
Der Plan, dort an einer Tanke durch heldenhafte Überquerung der Autobahn die Richtung zu wechseln und so an die Strecke Milano-München zu gelangen, geht soweit gut, daß ich nur ein paar Kratzer von den ziemlich hohen Leitplanken abbekomme, aber schließlich auf der richtigen Seite stehe. Dort ist aber nicht nur keine Tanke, sondern auch ein Flughafen, so daß direkt neben der Fahrbahn ein Stacheldrahtzaun entlangläuft. Mir bleibt nichts übrig, als die Abzweigung des Autobahnkreuzes in Richtung Brennero abzulaufen, bis eine geschwindigkeitsbegrenzte Stelle kommt, um dort die Autofahrer zu erschrecken. Das gebe ich nach ein paar Minuten auf - auch wegen der unwirtlichen Temperaturen. Ich erinnere mich, daß die nächste Abfahrt nach der junction, Verona Nord, höchstens zwei oder drei Kilometer eintfernt sein müßte. Das stimmt auch, aber an der Autobahn entlanglaufen geht nur, wenn auf der straßenabgewandten Seite der Leitplanke noch ein bißchen Platz ist. Dort ist eine schmaler werdende kleine Graskante, auf der ich in meinen Latschen herumstapfe. Alle 300 Meter kommt eine Brücke und ich muß kurz durch die rostige Leitplanke auf den Standstreifen wechseln und wieder zurück.

Freitag, 26.9.03.

Als ich endlich an der Auffahrt ankomme, bin ich völlig hinüber und darf im Morgengrauen erneut dabei zusehen, wie die Vorbeifahrenden nicht verstehn, was ich da tue. Ein deutschstämmiger Geschäftsmann fährt mich ins Gebirge hinein. Dort werde ich an einer stazione von Ali aufgelesen, den ich lustigerweise am Autobahnkreuz schon erschreckt hatte. Dort war er noch zu müde gewesen, um sich mich Gestalt aufzuhalsen, jetzt hatte er ein wenig geschlafen und wollte nach Stuttgart durchfahren. Da war ich als Unterhaltung gerade recht. Er ist Schlosser und schlichten Gemüts, dabei aber sehr offen und freundlich. Als er an der Europabrücke vor Innsbruck Frühstück macht, versuche ich in der Zwischenzeit jemand anderen anzuhalten. Die fahren aber alle in den Süden.
Also fahre ich mit Ali um die Zugspitze herum ins Allgäu.
Ab da ist Deutschland. Soll heißen: auf dem Rastplatz Allgäu laufen etwa 20 Angehörige des Wachbatallions der Bundeswehr herum, einige mit zwei Maschinenpistolen über die Schultern. Daneben sucht ein Arbeitsloser den Müll aus den Rabatten.
Soll aber auch heißen: Ab hier geht's Granate los. Mit einem Zeitsoldaten, einem Halberstädter Handwerker ("Die Arbeit ist doch reine Sklaverei heute") und einer netten Blankenburgerin gelange ich in sieben Stunden bis nach Thale vor die Haustür. Die Frau im letzten Auto ist sehr verdutzt, als ich ihr erzähle, daß ich froh bin, weider in Deutschland zu trampen.
Ich verstehe das ja auch nicht.



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