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Leseprobe aus "Aufschneider" von Daniel Kulla


VORSPANN


Sie hatte alle Rechte verwirkt, weiter in meinem Kopf herumzuspuken. So sehr ihre Sätze auch nachhallten, ich weigerte mich doch, sie für Symptome von Trennungsschmerz zu halten. Dazu hätte ich ihr nachtrauern müssen. Ein Teil von mir hätte sich wünschen müssen, sie zurückkommen zu sehen. Die Schlampe hatte gesagt: "Klar war es nur wegen des Geldes." Das viele, viele Geld, die zwölf Jahre steigender Aktienkurs, die dicken Rechnernetzwerke, die wartungsbedürftige Software. Alles war vergiftet gewesen. Ein Teil würde sie immer wieder haben wollen. Hatte die Schlampe gelacht: "Haha, Spaß? Darf ich fragen wann? Und womit?" Ich bemühte mich zu begreifen, daß es ihr die ganze Zeit gelungen war, mir vorzumachen, daß da etwas gewesen wäre. Alles vom Begrüßungsküßchen bis zum Blowjob nur Mittel zum Zweck. Und dann lehnte die verdammte Schlampe da am Türrahmen, den Mund von mir halb abgewandt, filmreif rauchend: "Bert, ich bin eine Frau, ich muß nicht extra üben, um zu spielen."

Mit welchen Geschichten konnte ich sie nun aus mir vertreiben?

Im Jahre 45 vor Christus hatten die Römer ganz Gallien besetzt. Ganz Gallien? Nein, es gab da noch ein kleines Dorf, das den Widerstand aufrechterhielt. Hier lebten Asterix und Obelix, die mithilfe des Zaubertrankes und ihres kleinen Hündchens Idefix den Okkupanten trotzten.

Ich durchblätterte die Bücher und Zeitschriften, bis nichts mehr herauskam.

Er hatte das Messer mit leisem Knurren weggezogen. Dabei hatte alles zunächst so gut ausgesehen. Und jetzt diesen Mann. Aber er wußte genau, was los war. Nick mußte grinsen. Ich glaube nicht, daß er gefunden werden möchte. Was wissen Sie von der Vergewaltigung? Man lebt ewig - kein weiterer Körperwechsel mehr. Jetzt bin ich verwirrt, was meine Pflicht ist, und ich habe aus Schwäche all meine Fassung verloren.

Es half nichts. Und es war langweilig.

 
Dann wird Ihr Leben vollkommen werden. ”Ich kann es dir jetzt sagen, Bert, weil ich weiß, zu wem ich gehen werde.” Die ganze verwirrte Welt gleicht einem lodernden Waldbrand. ”Ohne das Spielzeug wäre es sehr frustrierend gewesen.” Geh ins Bad, und wenn du deine Schuld ausgekotzt hast, dann warte im Vorzimmer. Wir haben noch viel zu tun.

 The stories don’t work, they just make me worse and I know I’ll see your face again.

Ich zappte den Fernseher leer.

 
            ...wird Jesus Sie hoch in den Himmel raufholen und in seinen ewigen Armen wiegen...

...sei es zur eigenen Verwendung oder für den Fall, daß mal Freunde vorbeikommen. Auch dann wird er sie alle glücklich machen...

...er wollte alle vernichten, die ihn aus erster Hand kannten. Und dieses Vorgehen, das müssen wir zugeben, war bemerkenswert erfolgreich.

 Das war anregender. Half aber ebenso wenig.

 ...Ihre Mutter ist tot. Ihr Halbbruder ist tot. Ihr anderer Bruder ist Alkoholiker. ”Ich habe endlich jemanden gefunden, bei dem es sich lohnt, ihm etwas vorzumachen.” Zwei Onkel sind tot, und einer ist geistesgestört. ”Er wird es auch niemals mitbekommen, aber er wird es auch nicht wissen wollen.” Zwei Tanten sind tot, und eine ist im Gefängnis. ”Wenigstens kann ich ihn dabei spüren.” Sie wird von ihrem Vater an den Haaren gezerrt, in einem Zimmer mit den mächtigsten Männern, die alle zum Tanzen gezwungen werden, vielleicht zum Geräusch kläffender Hunde...

 
Jeder Satz erzählte das gleiche Drama. Jemand tut jemandem etwas an. Alle Sätze paßten daher zusammen.
Und schmerzten zusammen. Schleier senkten sich über meine Augen und ich fiel aus dem Rahmen.


DER FALL

Ich ging zur Garage und fuhr einfach los. Ich dachte mir, ich könnte eine Runde durch die Stadt drehen, und als ich sie gedreht hatte, konnte es auch noch eine sein. Ich dachte mir, ich könnte eine Runde außen um die Stadt fahren und nahm die Umgehungsstraße, und da ich nicht wenden wollte, fand ich mich auf der B 26 wieder und überlegte, wo sie hinführte. Das wußte ich überhaupt nicht, ich kannte die nächsten paar Orte vielleicht bis Aschaffenburg, und nicht mal alle davon. Ich beschloß, soweit zu fahren, bis die Straße nicht mehr weiterlief. Was schon in Bamberg der Fall war, und da ich nicht wenden wollte, rauschten bald die Leitplanken der Autobahn an mir vorbei. Der A 70, der A9, der A6, der A61. Ich sah das Schild, das auf die Loreley verwies, nicht die Loreley selbst, von Koblenz merkte ich nur den Regen. Als es dann dunkel wurde, begrenzten die immer gleichen Farben meinen Tunnelblick. Das Blau der Wegweiser, das Grau der Fahrbahn, das Gelb und Rot der Lichter. Frankfurt vor dem kurz durchscheinenden Mond war das Letzte, was ich jenseits der Notrufsäulen wahrnahm. Dann fraß ich nur noch die weißen Striche und speicherte die Namen auf den Tafeln.

”Süß, wie verdattert du jetzt schaust.”

Ich fuhr die Nacht durch und den nächsten Tag und den nächsten Tag und es gab immer noch mehr Autobahn, immer noch Striche. Auch dort, wo ich erst eine Stunde zuvor langgefahren war, fand ich frische Kilometer.

Da der Erzähler nur schildert, wie ich fuhr und ausklammert, daß ich aß, wenn ich hungrig war und schlief, wenn ich müde war, gewinnt der Leser den Eindruck einer hypnotischen Reise, so wie ich selbst ihn gewann.

Eine überdimensionale Rennstrecke ergab sich, eine über 1700 Kilometer lange Runde, durch Berlin, durch Hamburg, durch den Ruhrpott, an Stuttgart vorbei, um München herum; wenn die Runde endete, begann sie erneut. Und erneut.

”Du bist so ein Volltrottel, aber mach dir nichts draus, Männer werden es eben nie verstehen.”

Als ich nach dem Frühstück an der Tankstellenausfahrt zwei Anhalterinnen stehen sah, merkte ich erst, daß ich seit Tagen unterwegs gewesen sein mußte. Daß niemand mich hatte erreichen können, da ich das Handy ausgemacht hatte. Daß ich nicht mal sicher sagen konnte, ob es jemanden gab, der sich Sorgen machen würde.

Daß ich in der ganzen Zeit keine Anhalter gesehen hatte. Außer ihnen jetzt. Niemand trampte, obwohl es nur ein bißchen regnerisch war, aber durchaus warm. War das nicht mehr üblich? Wie bewegten sich die Studenten jetzt fort? Oder bewegten sie sich nicht mehr? Mußten sie deshalb so viel geschubst werden, weil sie sich nicht mehr bewegten?

Außer den beiden natürlich, aber da ich nicht wenden wollte, war ich bald schon zehn Kilometer von ihnen entfernt und dachte, daß sie mittlerweile wohl mitgenommen worden waren. Beim Betrachten der Autofahrer in den anderen Wagen beruhigte mich dieser Gedanke plötzlich nicht mehr. Sie sahen alle keinesfalls besonders bösartig aus. Aber ich dachte darüber nach, daß die Anhalterinnen auch bei niemandem von diesen Leuten vorsichtig geworden wären.

Wie blöd ich auf sie gewirkt haben mußte, ich hatte ja nicht mal in Betracht gezogen, sie einfach mitzunehmen. Das mußte ganz schön schwer geworden sein, noch jemanden zu finden, der nicht nur blöd guckt. Ich erwachte langsam aus meiner Trance, die mich über die Autobahn gejagt hatte, fühlte mich aber weiterhin betrunken.

”Und was wirst du jetzt machen? Wie verarbeitet ein Mann eine Demütigung? Wirst du die Playstation anmachen?”

Die Schlampe steckt noch da drin, dachte ich, Mist, daß die Geschichten nicht helfen - vielleicht sollte ich die nächste Anhalterin mitnehmen und mir was erzählen lassen.

Das stellte sich als viel schwerer heraus, als ich vermutet hatte. Ich klapperte alle Rasthöfe auf dem Weg ab, fuhr sogar an größeren Abfahrten raus, nirgendwo stand jemand.

 
Im Jahre des Herrn hatten die Versicherungen alle Jugendlichen in eigene Autos gesteckt und die Tramper von den Straßen vertrieben. Alle Tramper? Alle bis auf zwei junge Damen, Astonia und Obina, die mithilfe ihrer Thermoskanne Kaffee und ihrer Hausratte Ihmchen tapfer den Leitplanken und Halteverboten trotzten.

”Die spinnen, die LKW-Fahrer.”

 
Am Nachmittag erreichte ich Berlin und schaute in der Höhe des alten Zollamtes Dreilinden auf die andere Fahrbahnseite. Da hatten früher immer mehrere Leute versucht, in den Westen zu kommen. Ich sah niemanden, war mir aber nicht sicher, die ganze Anlage sah anders aus. Ich verließ die Autobahn und fuhr auf der anderen Seite wieder drauf.

Spähend schlich ich über den Parkplatz und fand nicht mal Spuren - keine Sprüche auf der Leitplanke, keine herumliegenden Pappschilder.

Wo dann? 

Der Wagen rollte wieder auf die Avus, an Potsdam vorbei und ohne extra überlegen zu müssen auf die Raststätte. Hm, da stand ein großer Typ mit einem noch größeren Rucksack abseits der Zapfsäulen. Ich hielt neben ihm und machte das Fenster runter.

”Cholland?” fragte er mit osteuropäischem Akzent.

Ich überlegte kurz und schüttelte dann doch den Kopf. Er tat mir zwar leid, weil mir klargeworden war, daß die Anhalterei nicht mehr dasselbe war wie zu meiner Zeit. Aber ich hätte ihm nichts erzählen können und er mir nicht. Ach Scheiße.

Auf dem ganzen Gelände nur Motorisierte. Als ich drauf und dran war, den armen Haschtouristen doch noch einzuladen, sah ich durch die Lücke zwischen zwei LKWs an der Ausfahrt noch jemanden stehen. Ein viel kleinerer Rucksack, und er kramte gerade darin. Ich fuhr hinüber und erschrak, als sich mir der Blick auf die ganze Szene freigab. Zwei Einsatzbusse der Polizei standen neben dem Jungen, der aus der Nähe betrachtet noch im Schulalter zu sein schien. Ein Beamter las den Ausweis am Funkgerät vor und zwei andere ließen sich offenbar das Gepäck vorführen. Ich blieb ein paar Meter entfernt stehen und schaute zu. Der Junge mußte den Rucksack geöffnet einem der Polizisten hinhalten, der durchwühlte ihn mit groben Bewegungen und rief laut Fragen, die ich leider nicht verstand.

Ich machte den Motor aus, woraufhin eine Beamte ausstieg und zu mir rüberzeigte. Hastig zog der Wühler seine Arme zurück und winkte den Jungen weg. Der deutete in Richtung seines Ausweises und bekam ihn schnell wieder. Die Autos waren in Windeseile verschwunden und ich rollte auf den Jungen zu.

Er machte sehr selbstverständlich die Tür auf, bevor ich das Fenster runterlassen konnte.

”Na, danke, Mann. Fährst du die A2 oder die A9?” Das T-Shirt zeigte eine kaum verhüllte Unaussprechlichkeit von Giger.

”Welche hilft dir denn?” fragte ich.

Der Junge wurde etwas skeptisch. ”Na, du mußt doch sicher irgendwohin.” Er wollte nicht in einem Wald landen, dachte ich.

”Ich muß nach Frankfurt”, log ich, ”da sind beide Strecken okay, oder?”

Er runzelte die Stirn, und er und sein Rucksack stiegen mit geübter Bewegung ein.

Ich fuhr los. ”Wie lange hast du da schon gestanden?”

Gelangweilt spulte er ab, was er offenbar dauernd abspulte: ”Nicht sehr lange, geht auch meistens schnell, das ist einfacher als früher. Es gibt weniger Tramper und mehr Langstreckenfahrer, Angebot und Nachfrage. Ich bin kein Student, ich bin wirklich erst 18 und ich weiß, daß du normalerweise niemanden mitnimmst. Und ich werde heute noch im Wendland ankommen, ich mach das öfter.” Bumm. Er hatte alles beantwortet. Ähm, es waren, wie mir klar wurde, wirklich die wohl häufigsten sieben Mitnehmer-Fragen, auf die er eingegangen war. Das waren sie damals schon gewesen - was mir aber nie aufgefallen war.

Ich hatte nicht erwartet, mir etwas Originelles einfallen lassen zu müssen, also erkundigte ich mich, wo denn überhaupt noch Anhalter zu finden seien.

Er sah wieder skeptisch zu mir rüber und wurde etwas munterer: ”Warum bist du denn so geil drauf, unbedingt wen irgendwohin zu fahren? Mitteilungsbedürfnis oder hoffst du auf‘n Fick?”

Die Welt war in den letzten Jahren eine andere geworden, soviel stand fest.

”Hey”, ich versuchte, beschwichtigend zu klingen, schlingerte aber durch mehrere Tonlagen, ”ich fahr halt viel rum und... Hey, ich könnte eben da und da lang fahren... Mann, es war ja nur 'ne Frage... Bist du immer so nett?”

Ihm machte es offenbar langsam Spaß, er blieb jedoch viel zu cool für sein Alter: ”Mr. Unterhalte-mich-selten, mach ma locker. Wenn ich nichts unternehme, sind die Gespräche immer nur der gleiche Käse. Ich kauf dir schon ab, daß du bloß Langeweile hast, ist ja kein Wunder.” Er grinste. ”Ich hätte dir einen runtergeholt, Mann, Chance verpaßt.”

Das hätte er wohl wirklich getan. Ich schaute kurz aus dem linken Fenster.

”Und wo stehen die anderen nun so rum? Wenn du das öfter machst, weißt du doch, wo du mal wen triffst.”

Er hatte sich eine Zigarette in den Mundwinkel gehängt und das Feuerzeug schußbereit: ”Stört dich das? Also, es gibt nicht mehr so viel Tramper”, schon zog er und blies, ”weil es ist zwar einfacher geworden, aber eben auch härter. Die ganze A4 hat gute Stellen, wo vor allem Polen und Tschechen rumstehen: Wilsdruff, Eisenach... Dann hier eben Michendorf ist immer wer, also öfter zuminstns. Nürnberg-Feucht wird gern genomm’, Wetterau, obwohl ich das nicht verstehe. Und sonst eher mal sporadisch. Biste im Außendienst?”

”Nein, ich bin verlassen worden und fahr doof rum.”

”Also auch nicht nach Frankfurt, oder wie?”

”Ich bleibe aber auf der Autobahn, das tut gut.”

Da waren mir ja direkt zwei Sätze geglückt. Der Kerl war gutes Training. Das war überhaupt eine gute Regel: jeden mitnehmen, aber nur soweit es auf der Autobahn geht.

”Das heißt, ich setz dich dann irgendwo raus, wo’s in die Richtung runtergeht, ähm, in Wolfsburg oder wo?”

”Naja, das wäre schon okay, aber das liegt im Westen, die Landstraße von Haldensleben ist das bessere Pflaster. Im Osten wird man auch im Dunkeln noch mitgenommen, darauf muß ich hoffen...”

Ich war zwar verlassen worden, aber er ließ seine Satzenden immer noch so hängen, daß sein Vorankommen im Mittelpunkt blieb und das beabsichtigte Mitleid verursachte. Der machte das wirklich öfter. Ich würde jetzt sagen, naja, eh du da irgendwo rumstehst, fahr ich dich noch ein Stück, und er dann, nee, laß ma, ich komm da schon weg, und ich dann wieder, ich laß dich doch nicht in der Pampa raus und so weiter, bis wir bei ihm vor der Tür stehen.

Ich sagte: ”Von der Autobahn geh ich aber nicht weg, sorry.”

”Laß ma”, sagte er, ”ich komm da schon weg, kein Ding.”

”Übst du das eigentlich? Leute an den Haken kriegen?”

”Ich sagte ja schon, es ist alles härter geworden, da schleift sich so einiges von selbst ein. Wenn du nichts verkaufst, gehste pleite.”

”Was ist denn härter geworden?” fragte ich und bemühte mich zu spät, nicht arrogant zu klingen.

”Du hast vorhin die Bullen verjagt, oder? Es war zwar nicht der BGS, aber manchmal stänkert die Autobahnpolizei auch. Wenn irgendwo zuviele hinbestellt wurden und die nix zu tun haben, isn Tramper gerade das richtige Spielzeug.”

”Aber die können dich doch auch nicht wirklich ärgern, oder?”

”Dann und wann ein Schlag in die Niere, diese dämlichen Fragen, jedesmal eine Viertelstunde aufgehalten werden - wenn es mehrmals auf einer Tour passiert, kann es schon dafür sorgen, daß ich mich nicht mehr richtig wohl fühle.”

”Du mußt nur darauf bestehen zu erfahren, mit wem du es zu tun hast. Die haben auch Schiß vor den Vorgesetzten.”

Da platzte es aus ihm raus: ”Das ist es wieder mal. Deshalb sieht die Welt so aus, wie sie aussieht. Du gehörst auch zu der Fraktion, bei der immer alles nicht so schlimm ist und nicht so schwierig sein kann. Wenn ich ein Problem habe, hab ich es einfach nicht richtig versucht, ja? Die Nierenschläge hatte ich immer nur vom Fragen nach der Marke.”

”Oh.”

 ”Ja, oh. Aber das ist es ja nicht bloß. Es ist auch härter geworden, weil sich keiner mehr um irgendwas kümmert. Weißt du, ich komm aus dem Wendland, das ist da, wo sie den Atommüll hinkippen. Wenn bei uns ein Bulle vorm Haus steht und klingelt, schlägt meine Mutter die Tür gleich wieder zu.”

Ich war wirklich erschüttert. Ich fühlte mich wie in einem anderen Land. Dieser Junge war halb so alt wie ich, er redete unglaublich abgeklärt, enttäuscht, er schien allen Grund dazu zu haben. Jemanden wie ihn hatte es bisher auf meiner Deutschlandkarte überhaupt nicht gegeben.

Teilweise war ich trotzdem dankbar, denn je länger er von den politischen Verladespielchen in seiner Heimat erzählte, desto mehr wurde die Schlampenschande von der Umweltschande verdeckt.

Er fuhr fort, recht gelehrt von der Evolution der Protestbewegungen zu erzählen, wohl in der Art, wie er es von seinen Eltern kannte. Er redete davon, wie die Hippies ihre Unschuld verloren hatten und wie die Gegenkultur nacheinander von Zersetzungsstrategien aufgefressen worden war. Ende der Sechziger hatten die SDSler und marxistischen Kader aller Couleur die experimentierfreudigen Bunten dazu gebracht, damit aufzuhören, ein anderes Leben vorzuleben und sich stattdessen aufs Glatteis des politischen Tumults zu bewegen; die Christen hatten mit konzertierter Aktion aus der netten und körperbetonten Spiritualität durch Jesusbestrahlung einen Haufen schicksalsgläubiger Erdulder destilliert; die Geheimdienste hatten ein paar Rastlose mit Waffen und Strategien und antisemitischen Ideen versorgt und dann die Jagd auf sie eröffnet - und auf alle anderen gleich mit; begleitend hatte man eine Gewaltdiskussion inszeniert, die fortan die Worte Kampf und Terrorismus im Reiz gleichsetzend verband; zuletzt hatten die Pharmakonzerne die Szene mit billigen Drogen überschwemmt und später die passende Diagnose dazuerfunden.

Während es mir erst so vorkam, als würde der Schleier weggerissen, den die Selbsthypnose der letzten Tage vor meine Augen gehängt hatte, bot sich mir irgendwann ein Bild, das ich noch nie wahrgenommen hatte.

Daß es nach all der Ein- und Ausgrenzung zumindest noch die harten Autonomen und ein paar Versprengte der einzelnen Phasen gab, war beinahe ein Wunder, nur hatten sie außer einem Crashkurs in moderner Staatsführung auch einen in beschleunigter Verbitterung hinter sich.

Als ich den Jungen absetzte, bedankte ich mich bei ihm. Er schien durchaus überrascht zu sein, daß mir seine Politpredigt nahegegangen war und schaute ein bißchen zufriedener als noch in Michendorf.

 Im Jahre 1978 hatte der Verfassungsschutz das Land mit V-Leuten überzogen und alle Hippiekommunen aufgelöst. Alle? Alle bis auf eine. Hier lebten Adi und Ossi, die mithilfe ihrer Zauberpilze und ihrer magisch begabten Katze  Idicita den Unterwanderungsversuchen trotzten.

”Adi, der V-Mann zu dem du vorhin so liebenswürdig warst, ist gerade ganz liebenswürdig zu mir. Darf ich liebenswürdig zu ihm sein?”

Ich war gespannt, was mich noch alles erwartete und freute mich darauf, meinen Kopf mit Geschichten füllen zu können.

Einen Moment lang dachte ich an die Firma. Ich dachte daran, daß ich genügend Geld besaß, um jahrelang davon eine Familie zu ernähren, aber eben die Familie fehlte. Selbst wenn sich in meiner Abwesenheit jemand der Firma bemächtigen würde, was ich eigentlich nicht glaubte, wäre mein Privatvermögen davon gar nicht angetastet. Hatte ich nicht mal irgendwann vorgehabt, solange zu arbeiten, bis ich mir von dem Geld eine nette Zeit machen konnte? Das sollte ursprünglich höchstens zehn Jahre dauern. Wohlmeinend wurde ich gewarnt, daß ich irgendwann vielleicht nicht mehr wüßte, wie eine nette Zeit aussieht. Wie viele Jahre war ich über diesen Punkt schon hinaus?

Ich schaltete das Telefon ein und schickte, ohne auf die Dutzenden von Nachrichten zu achten, die mir hinterlassen worden waren, eine Rund-SMS an die Wenigen, die sich sorgen könnten. Und auch an die, die vielleicht eine Fahndung einleiten würden. Mit der Versandbestätigung machte ich wieder aus und fuhr weiter.





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