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   EINE PERFEKTE WELT MIT PICKELN

Vorwort von Frank Unger
auf seiner Seite

 

Ein Musikmagazin liegt aufgeschlagen auf einem Sofa.
Es sind einige Stellen eines Interviews angestrichen,
die von der Kamera vergrößert eingefangen werden.
James DiSalvio, der "Bran Man" von BRAN VAN 3000, beschreibt seine Band:
"...Für mich ist das sehr normal, denn wenn man mit Musikanlagen aufwächst,
kann auf der einen PANTERA und auf der anderen KOOL MOE DEE laufen,
und man kann es an- und wieder ausmachen. Weißt du, genau so hab ich Musik gehört.
Und so hab ich irgendwie eine Pop-Platte gemacht,
 die Pop-Platte, die ich immer hab kaufen wollen,
 die Rock'n'Roll-Platte, die ich immer hab kaufen wollen.
Vielleicht sogar die Folk-Platte, die ich immer haben wollte...
Ich werde gefragt: ‚Was ist dein größter musikalischer Einfluß?'
Und ich sage, John Cassavetes, ein Filmregisseur...
BRAN VAN ist eine wundervolle Familie, die verschiedenste
Kulturen, Klassen, Rassen, Geschmäcker, verschiedenstes Alles vereint.
Wir erkennen alle die Bedeutung von STRAVINSKY und den BEATLES und JIM NABORS...
Auf der Bühne besteht BV3 üblicherweise nur aus 9 Mitgliedern des Kollektivs
(zwischen 23 und 40 Jahren alt), das insgesamt viel größer ist
... Es war eine große Wohnzimmerparty und wurde später eine Band..."

EINBLENDUNG:
ERSTE NACHT

1

Das Viriol-Spiel lief eigentlich ziemlich cool. Die nur aus Haaren bestehenden Bewohner dieses Mikroplaneten kriegten einfach nicht genug vom Leben und wurden dadurch immer älter und weiser und das alles. Es war halt ein bißchen öde zu spielen, weil es eine dermaßen feine Balance am Anfang des Spieles gewesen war, die jetzt diese lustigen Resultate hervorbrachte, daß sich die Evolution überhaupt nicht traute, nun im fortgeschritteneren Stadium noch irgendwas daran zu drehen, um die Viriolen weiter dorthin zu bekommen, wo sie sie haben wollte. Naja, sie speicherte erstmal zwischen und holte sich einen Kaffee. Der war nicht mehr ganz heiß und es half auch nichts, ein bißchen Kardamom hineinzutun.

Die Evolution befand sich natürlich weiß Gott noch nicht im gesetzten Alter und stank sich mit langweiligen Spielen völlig an. Deshalb fiel ihr jetzt dieser andere Spielstand ein, der zwar einfach nicht aus dem Knick kam, weil sie es vielleicht ein bißchen mit dem Einfügen von herben Herausforderungen übertrieben hatte, ABER eben eine kulturelle Strömung hervorgebracht hatte, die der Langeweile mit allen Mitteln zu Leibe rückte.

Es war ein merkwürdig nasser Planet, auf dem ein paar verbitterte Zyniker inmitten eines gigantischen Massengemetzels etwas zu Lachen gesucht hatten und dazu übergegangen waren, Gedichte zufällig aus dem Hut zu ziehen, und danach dem selben Muster entsprechend Information als das Gegenteil von Langeweile definiert worden war. Das eine bekam den aus dem Hut gezogenen Namen Dada, das andere wurde bloß sinnigerweise Informatik genannt und war aber trotzdem zunächst erfolgreicher.

Es dauerte noch ein paar Schluck, bis sie das Spiel gefunden hatte, dann stellte die Evolution den Kaffee weg und entspannte sich, während der Rechner den Ladevorgangsbildschirm zeigte:

Dimensionen: 2211100000000000
Lokale Sternzeit: 2451701,42
Planet: Sol 3, "Erde"

Na, ma kucken. Ach, das war das, ja, da hatte sie aber wirklich ganz schön hingelangt mit Naturkatastrophen, Selbstzerstörungsprogrammen und so. Aber wenn die Haararmen das noch hinkriegten, wow.
 

2

Aus den Lautsprechertürmen rann atmosphärischer Stahl. Auf der Bühne flackerte materielle Elektrizität. Naja, die Band war halt so Hamburg. Sie hatten ziemlich selbstmitleidig begonnen ("Was soll ich denn mit sowas wie mir anfangen?" in tiefster TOCOTRONIC-Lage), aber jetzt rockten sie wenigstens. Das Gesicht, mit dem der Sänger gerade "Vergiß es, hinter meiner Fassade kommt auch nichts mehr" sang,  hätte allerdings den Pazifik vergilben lassen.

Lena kam aufgekratzt herbeigehopst und fiel mir um den Hals, wobei sich unsere Busen sanft berührten. Ihr gefiel der Gig offensichtlich, es war halt ihre Art Musik. Sie stellte eben nicht solche Ansprüche wie ich und schien sowieso nicht so intelligent zu sein, wie alle dachten. Sie pflegte an bestimmten Stellen einfach zu lächeln oder bedeutungsvoll zu schweigen. Oder sie schaltete effektvoll ihre Augen ein. Oh ja, ihre Augen. Warum mußte sie nur so wahllos hinter irgendwelchen Typen hersein? Sie war so unglaublich beeinflußbar. Leisen, unhörbaren Schritts eilte Verwirrung herbei, einer der umherstreifenden Riesen, den enormen schwarzen Hut mit den mysteriösen Verzierungen bis weit über die Augen gezogen, so daß man diese nicht sähe, ihren Ausdruck nicht zu deuten wüßte. Des Antlitz' unbedeckte Stücke glichen einem MONDgesicht, alles sagend und nichts. Runzelt's die Stirn, lacht's, droht's mit Widernis? Alles und nichts. Auch vom Halse abwärts gab's nicht viel zu erkennen, ein langer, lichtschluckend dunkler Mantel verbarg die Formen, versteckte die Bewegungen. Wohl raste der Mondmann, doch still und ohne Regung schien alles an ihm. Sah man's nicht? Sollte man's nicht sehen? Sollte man sich fragen? Nun stand er vorm Club, in dessen Innern das berichetete Konzert dargeboten wurde, seine ausgetretenen schwarzen Stiefel standen in den Steinen der Straße,  und mit den Stiefeln alle Straßen, deren Abzweigungen Verwirrung gestiftet hatte. Er machte den Chronisten schreiben: Er hatte einen Stab wie eine Bahnschranke. Ein Spazierstock eher, den er in der Linken trug, doch wehe, wenn er gedreht wurde: Dann gab es keine Garantien mehr für irgendetwas. Der Kopf drehte sich, was daran zu erkennen war, daß der Hut sich drehte. Was hatte er vor? Er murmelte bedeutend klingende Formeln, die niemand hörte, wie ihn ja auch außer den anderen Riesen niemand hätte sehen können. Das Murmeln wurde intensiver, jedoch unbestimmter, gestreuter gleichermaßen. Er hob den linken Arm und ließ den Stab in der Hand kreisen: Acht mühsam aufgebaute Hauptfiguren des Buches waren tot. Halt, das waren irgendwie keine vollkommen ausgewogenen  Betrachtungen, wohl weil ich sie eben auch wollte. Leider mußte ich schon froh sein, wenn es ein paar Leute gab, die sich vor mir nicht ekelten. Ich möchte hiermit noch einmal allen danken, die daran mitgewirkt haben, mich wie ein halbes zerknautschtes Mininashorn aussehen zu lassen. (Die Evolution zuckte kurz zusammen.) Es hatte ja nicht gereicht, meine ursprünglich vorgesehene Nase durch einen riesigen herausgewölbten Bovist zu ersetzen, meine Haut mit Rissen und Dellen zu übersäen und mich mit einem Obelix-Bauch zu segnen. Nein, das, was von meinen Beinen zumindest die Geburt überstanden hatte, mußte selbstverständlich von einem Autofahrer noch ordnungsgemäß angefahren werden, damit ich mich zwar bewegen konnte (UND WOLLTE!), das aber immer aussah, als wollte ein Storch in einem überfüllten Bus nicht umfallen. Es wäre kein Problem gewesen, extra für mich eine neue Tarotkarte einzuführen, die der Einfachheit halber mit genetischen Experimenten, göttlicher Unergründlichkeit, Scham und Schadenfreude korrespondiert hätte. Schalala.

Lena schaltete drei, vier Gänge runter. "Hey, She", sagte sie aufmunternd zu mir, anfangs hatte ich den Namen noch ziemlich angenehm originell gefunden, doch mittlerweile fragte ich mich, ob er nicht bloß meine schwer erkennbare Geschlechtszugehörigkeit klarstellen sollte. "Stimmt was nicht?" Was war gut.

Bloß, was konnte eigentlich Lena für all das? "Is schon okay", sagte ich und hoffte, sie würde mich wenigstens nochmal knuddeln. Ihre Aufmerksamkeit war jedoch schon wieder völlig von einer Familienausgabe eines Metalgitarristen in Beschlag genommen.

Ich konzentrierte mich auf die Musik. Hey, was sangen sie? "Ich bin schuld am Kapitalismus, ich bin schuld an der Evolution, ich bin schuld an mir", das war direkt witzig, es paßte und jetzt hatten sie auch noch einen Samplemann auf der Bühne, der hinter den zweiten Refrain "auch wenn du darauf schwörst, daß du nur dir gehörst" hängte. Na bitte, Stimmungsbrezel in Silber.

Daß ich diese Karikatur von einem Körper so sehr fühlen mußte! Tanzen war doch wie Atmen, ich tanzte auch beim Gehen, der Anspruch an die Musik war ja wurscht, wenn es nur Voodoo zur Inbetriebnahme meines Bewegungsdranges war.

Huch, abruptes Songende, ich fahndete in der Hosentasche nach Kippen, aber die Schachtel war leer, Lena schon einige Kerle weiter weg und ich wollte jetzt auch sonst niemand fragen, um ihnen die Peinlichkeit zu ersparen.

Der Sänger hatte was  zum Rauchen, und dieser Song fing mit einem Sample an, unter das die Zupfinstrumente ein bißchen Noise legten. Es war tatsächlich aus diesem Wilhelm-Reich-Bio-Film: "Wir können die Akkumulatoren auch noch anzünden, das gibt sicher ein hübsches Feuer!" - "Bitte, Dr. Reich. Sie wissen, wir haben einen Auftrag." - "Ich habe Benzin da!" (War das jetzt Pose oder die Stunde vorher?) Der Noise wurde langsam zu einer Melodie, ein Mollintro, und er sang: "Wir werden nich mehr schlauer... Wir werden nich mehr fühln... Wir werden nich abhebm" Und dann, genau auf "WENN IHR WOLLT" knallte die ganze Band los. "Kein Problem, wenn ihr wollt, bleim wir hier sitzen, hier stehen, wir können uns hier und jetz begraben, wenn ihr wollt."
 

3

Alle waren sie da, bis auf Lena und She und noch ein paar Leute, die bei dem PP-Gig waren und zwar gesagt hatten, sie kämen nochmal vorbei, bevor sie dann in diesen komischen Club gehen wollten, den Lena aufgetan hatte, aber naja. Aus den Nerven, aus der Energie der Anwesenden gebar sich ein weit'rer Riese, eine Riesin, die Lust. Sie erstieg aus allen, die um die Tische oder auf Teppichen und Kissen Platz gefunden hatten, sie wuchs aus den sich windenden Muskeln auf der Tanzfläche, oh Summe des noch wartenden Verlangens. Hatte der DJ wirklich Lust dazu? Lauter Standards, olle Latschen, als hätte er lange keinen Plattenladen mehr von innen gesehen. Wenn Motze und Ari selber aufgelegt hätten, wär es sicher besser gewesen, aber sie wollten sich lieber auf die Gäste konzentrieren, von denen sie viele deshalb eingeladen hatten, weil sie sie nie irgendwo zu Gesicht bekamen. 

Es gab in dieser verpupsten Stadt einfach keinen Laden, in dem man irgendwen traf und sie mochten ja auch selbst nie vorher sagen, ob sie schon wieder dahin gehen würden oder sogar dahin... We're all stars now in the Dope Show, oh Mann, das war doch wirklich abgenudelt. Okay, alle amüsierten sich. Wer erzählt das alles überhaupt? Sie sammelte sich, allen Riesen gleich in ihrer Unsichtbarkeit, Unhörbarkeit, einzigartig darin, daß sie nur aus der Rotation bestand, daß ihre wandelbare Form immer neu ins Leben trat und wieder starb. Den Gegenwärtigen fuhr ihre Präsenz in die Glieder, nichts Faßbares, nur ein süßer Schatten. Lust erreichte ihre volle Größe, thronte sodann weit über den Zimmern, welche das Fest beherbergten. Ihr Sinnen war's, solche zu finden, denen mehr zuteil werden sollte als ihre verschönernde Allgegenwart. Um den langen Tisch in dem WG-Gemeinschaftsraum hatten sich Aris alte Freunde aus seiner Zeit als Irgendwas-Student eingefunden, nett besoffen waren sie alle, sie redeten, spulten die ganze Weltverbessererscheiße ab, die aber seltsamerweise genauso laut hier ankam wie die Gespräche in den anderen Zimmern. Alle Worte schienen von jedem Ort zu kommen und bildeten ein Kaleidoskop von semantischen Fetzen, das von einer unbestimmbaren Kraft zusammengehalten wurde und sich immer weiter verdichtete:

"Es scheint so etwas wie Bedürfnisse überhaupt nicht zu geben", sagte irgendwo ein halbes Gramm Eigenanbau zu einer halben Flasche Chianti. "Es wäre möglich, einfach in der Nähe eines Gebirgsbaches in einer warmen Klimazone zu sitzen und nur dazusein."

Ein Dutzend Gauloises, auf zwei Campari schwimmend, mischten sich ein: "Nicht nur dazusein, Mann, in sich herumzudenken, mit sich zu sprechen, laut zu singen, mit dem Leben zu kommunizieren..." (Die Evolution hätte fast ihren Kaffee verschüttet.) "... eben die Hölle einer guten Zeit mit sich selbst zu haben!" Und niemand hätte zu sagen vermocht, ob es zynisch gemeint war oder nur ein außer Kontrolle geratener Anglismus.

Ein grübliges "Ähm, ich glaube gar nicht, daß ich glaube, RAGE AGAINST THE MACHINE hätten Crossover erfunden, aber sie waren die ersten, die das so gespielt haben, nein, nein, es ist so, daß ich es vorher noch nirgendwo so gefunden habe" wurde mit "Und wenn du jetzt etwas hören würdest, was sie zwei Jahre vorher gespielt haben, angenommen sowas gäbe es, würdest du es, egal, wie gut es ist, noch authentischer finden" erwidert und hier und da war gerade ein "Hey, Danke, ehrlich" in den Mix geraten, die anderen Drogen, die natürlich niemand mitgebracht hatte, die jeder von irgendwem bekommen hatte, von einem von denen, die mit dem und dem da waren, diese mit einem gelben Fragezeichen versehenen roten Trips ließen Sätze entstehen wie "Du bist keine Metapher" und "Alle hier sind vollkommen frei". Der Hinterkopf schlug enttäuscht an den Türrahmen: "Fickpisse. Mann, wozu braucht's denn noch Eifersucht, sind Abweisung und unsicheres Warten nicht völlig ausreichend?" 

Eine Hand landete zufällig auf einem Knie: "Na, trau dich doch." Ein Rülpser. Jemand sagte: "Wenn du sie auf einem BAD-RELIGION-Gig kennenlernst, weißt du ja schon das Wichtigste von ihr." Irgendwo wurde einer Neuen, die es noch nicht kannte, das eine FUNNY-VAN-DANNEN-Lied vorgesungen. Die an Klugheit wie an Gedankenfülle, Unterhaltsamkeit, Ausstrahlung oder Verunsicherung verschieden reichen Beiträge schallten wie ein einziges "Frohe Nächte zu frohen Tagen!" Da eingewirbelt war, was wieder hinabblitzen sollte, fand Lust den Moment reif, den Beutel zu schnüren, die Ladung zu feuern. Sie verlieh dem Informationstrichter eine neue Richtung, geballte Verständigung schleuderte sie nun wieder abwärts, doch mit bestimmtem Ziele. Beide sahen in den Augen des anderen ein Ja, Henry ein "Genau jetzt", Marie ein "Ich hab nur darauf gewartet". Ihre Körper wurden gespannt zum Aufstehen, mit wenigen Schritten standen sie nebeneinander, blickten sich noch einmal wissend an und nickten. Wer es sah, lächelte. Wer sah, wie ihre Hände sich faßten, seufzte sicher leise und blickte sich langsam um, nur um zu sehen, daß die Party noch arbeitete.

Sie verließen die Wohnung und wußten sofort, daß eine Etage darunter Platz und Ruhe und Dämmerung bereitgehalten wurden, deren sanfter Obhut sie sich anvertrauen konnten.

Die Party war hörbar, aber für den Augenblick unbedeutend und hinter einem Berg. Leicht nervös begann Marie, sich auszuziehen, während Henry vor dem Bett stand und sie mit kindlicher Begeisterung bestaunte. Montag bis Donnerstag brauchte sie, um das Hemd aufzuknöpfen, es war Freitagnacht, als sie die Hose aushatte. Während sie nur Teile des Wochenendes verplemperte, um schließlich nur noch Slip und den halbdurchsichtigen BH anzuhaben, nahm Henry neben ihr auf dem Bettrand Platz.

Sie legte sich mit angewinkelten Beinen ziemlich gerade auf den Rücken und blickte Henry Gewißheit suchend an. Er hatte sich mittlerweile leicht über sie gebeugt und hielt die rechte Hand wie zum Schutz ein Stückchen über ihrem Bauch.

Er nickte und sie schloß die Augen. Er war bei ihr und um sie und sie begann, mit ganz tiefen Zügen zu atmen. Seine Hand senkte sich behutsam auf ihre Bauchdecke und machte die heftiger werdenden Atembewegungen mit, unterstützte sie, tastete sie nach Holperern, nach Dissonanzen ab. Sie wurde gelöster und verlor ihre Nervosität, sie gab sich der Atmung mehr und mehr hin und in bestimmten Momenten öffnete sie die Augen und er nickte.

Oh Gott, da war es, da saß es, es hatte sich gut versteckt und aus dem Hinterhalt die ganze Woche bereits in ihrem Körper herumgepfuscht. Aber der vorsichtige Druck, den Henrys Hand ausübte, hatte es zutage gefördert. Dieser frische kleine Krampf, diese virtuelle Verbotstafel wurde deutlicher fühlbar, gab seine schmerzende Botschaft ganz deutlich ab: Fühl dich nicht wohl. Er war eine Zeitbombe, die wie die anderen ihrer Art vor langer Zeit an einer Stelle eingebaut worden war - aus Neid, aus Angst, aus Vernunft - und sich jetzt bemerkbar machte, weil es um sie herum zu leben begann, weil sie sowas von wohl gefühlt wurde, daß sie unverzüglich Maßnahmen ergreifen mußte. Aber sie wurde erwartet, was sie nicht erwartete. Der Feueratem, der sie in Alarmbereitschaft versetzt hatte, war dabei, sie aufzuknacken und unschädlich zu machen. Von ihr sollte höchstens ein bißchen schlechter Stuhlgang übrig bleiben. Sie wehrte sich mit allen Mitteln, sie bemühte sich während des minutenlangen Ringens, sich mit den anderen mehr oder weniger wachen Zeitbomben zu verbünden, versuchte, das Gefühl zu erzeugen, daß sie wichtig war und weise und schon immer da, aber es half nichts. Dieser Lebensstrom war nicht mehr einzufangen, das hier war etwas Neues. Ein Ja-Programm, für das sie nicht vorbereitet war, sie konnte es nicht vermiesen und nicht entwerten.

Die Bombe platzte auf ("plop"), erinnerte dabei (für sie selbst) entwürdigend stark an einen Eiterpickel, der gerade ausgedrückt wurde und wurde zu etwas anderem, das sich wohlfühlte.

Erleichtert seufzte Marie, legte ihre Hände auf den Bauch und schubbelte, sich schüttelnd, darauf herum. Erstmal "Bwrrrr!" und dann "ffffffffffhhh". Henry lehnte sich zurück und hatte keine Ahnung, ob er jetzt noch irgendwas Intelligentes sagen sollte. Angst ging wutschnaubend vors Haus und spuckte einen Teich auf den Bürgersteig, der selbstverständlich für niemanden außer ihresgleichen vorhanden war, ansonsten aber einen gerade pissenden Hund ertränkt hätte, der gerade eine gar nichts Besonderes machende Ameise ertränkte. "Ha!" machte sie und warf einen vernichtenden Blick zu Lust nach drinnen. Die versuchte, ernst zu bleiben, mußte aber schmunzeln und bekam dadurch ein schiefes Gesicht, ohne jedoch ihre Anmut zu verlieren. Sie fand es immer eher komisch, wie die stoische Büroruhe, die Angst meistens ausstrahlte, in kürzester Zeit in Raserei umschlagen konnte, aber sie wußte auch, daß ihre Belustigung das beste Mittel war, Angst noch wildere Anfälle zu bescheren, die leicht in Massenschlägereien, Talkshows oder Kriege umgesetzt werden konnten. Noch ein unverzichtbares Feature von Angst: die völlige Unfähigkeit oder besser der völlige Unwillen, ihre Ausbrüche zu dosieren oder zu lenken. Verdammt noch mal, dachte Lust und verkniff sich das Lachen nicht länger (Na, auch aus mangelnder Zurückhaltung? - Aus mangelnder Rücksicht vor der Lächerlichkeit) Sie lachte laut und gut und vollführte Tänze, wie sie noch viele zu vollführen gedachte. Jetzt zog Marie auch noch das entzückende Nichts aus, das sie beinahe anhatte, half Henry aus seinen Klamotten und wenn man das schnell genug vorliest, ohne zu nuscheln, ist es sehr effektvoll.

Ist dies eines von der Sorte Bücher, in denen jetzt weiter auf die Aktivitäten dieses Pärchens eingegangen wird? Auf keinen Fall. Jetzt noch nicht. Es ist kein Kondom im Spiel, soviel darf verraten werden, und zwar weil er ihr vertraut. Angst bebte vor Wut, weil offenbar alles gegen sie lief. Hatte sie hier alle Vorposten verloren? Waren diese Lebewesen dort nicht irgendwie erwachsen zu machen? Scheiße, scheiße, scheiße. Es gab schließlich acht von ihner Art, acht Riesen, acht Karmakräfte, auf die eigne Weise Einfluß nehmend, und mit lediglich bemessener Unterbrechung nach jenen Eskapaden in der Großen Zeit der Jugend vor drei Dekaden war das Geschlechtliche mit Verlaub ihr Terrain. Lust hatte da nichts zu suchen. Sünde, ja! Willensbruch! 

Oh, hier mußte wohl Einiges klargestellt werden. Sie ging, kleine Kieselmülltonnen aus dem Stadtviertel kickend, davon.

Irgendwas unklar? Such im Netz:   

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4

Wir verlassen nun die Innenräume und fassen einen jungen Mann ins Auge, der mit nachdenklicher Miene unter schummrigen Laternen eine Ausfallstraße entlanggeht. Name: Ansgar. Alter: 23. Besonderes Kennzeichen: Glatze. Hobbys: Enttäuschungen. Jawohl, mit sicherer Vorahnung große Hoffnungen aufbauen und dann nach einer Phase am Leben haltender Illusionen sich enttäuschen lassen. Ist er etwa gerade schon wieder auf dem Weg? Wartet dort, wo ihn das gleich angehaltene Auto absetzen wird, ein "Das wird eben nichts"? Hat er wieder mehr darin gesehen, als es war und dann noch mehr daraus machen wollen, als er gesehen hatte? Hat ihm denn noch niemand gesagt, daß es das alles eigentlich nicht gibt, wonach er sich sehnt?

Oh doch! Und in der Geschichte, die er da mittlerweile mit sich herumträgt, finden sich seine Antworten aus diesen Gesprächen. "In mir gibt es das", hatte er gesagt. "Und es scheinen sich alle irgendwie danach zu sehnen." Nach der Versöhnung von Körper und Geist? Nach der Selbstverständlichkeit von Gefühlen? Seine Nachdenklichkeit wird zur beseelten Aufregung, noch tiefere Runzeln auf der Stirn: "Ja, ja, ja! Denn es ist falsch rum. Sie fragen, warum sie kommunizieren sollten, warum sie jemanden lieben sollten. Es muß doch heißen: Warum nicht?" Es ist ihm so wichtig, daß er laut wird, daß seine Stimme sich zu überschlagen droht, daß es noch weniger nach Überzeugung klingt, daß er vergißt, den Daumen rauszuhalten: "Nehmen wir vorhin. Es spielte diese wirklich gute Band, STROMHORNTROMPETE, Bristol-DJ-Zeug mit Sängerinnen, jedenfalls begreife ich nicht, was da daneben ging. Die sicher zweihundert Leute, die da waren, warteten auf einen besonderen Grund, richtig auszurasten! Was denn noch? Es gab Bass, es gab eine ausgelassene Show, in den Songs steckten gute Ideen. Ich dachte, was noch? Dann wurde es dem Publikum sogar vorgesungen! ‚Kann sein, daß die Sechziger zu frei taten, aber ist eure Isolation wirklich nur Unabhängigkeit', hieß es in der Strophe und ‚Los doch, laßt uns Schweinereien machen und unseren Stolz vergessen' im Refrain. Aber es gab keinen besonderen Grund, klar? Zweihundert Paar Arme blieben verschränkt oder baumelten lasch herab, zweihundert Paar Beine taten nichts außer ein bißchen wippen und vielleicht mal einen Schritt machen, jetzt werden zweihundert Münder nicht singen und zweihundert Genitalien trocken bleiben, denn warum sollte es anders sein?"

Und was hast du gemacht, Ansgar? "Erst hab ich auch nur verschränkt und gewippt. Erst, als ich's richtig gut fand, bin ich ein bißchen rumgesprungen und hab damit wohl die Quote erfüllt. Ich hab es für alle anderen getan. Ich machte den Vortänzer, es muß ausgesehen haben, als bezahlen sie mich dafür. Ich tanzte für ihre Sünden! Dann hab ich mich an den Rand gesetzt und mich unvorteilhaften Gedanken hingegeben."
Welcher Art waren diese Gedanken? "Sie kommunizieren nicht, also werden sie nie herausfinden, was sie verpassen."

Geben Sie zu, in der fraglichen Überlegung vor allem ein gewisses Selbstbild vor Augen gehabt zu haben? "Ich gebe zu Protokoll, daß ich vor allem dachte, niemand von den Flachzangen, die dort standen, würde je etwas über mich rausfinden. Es steht nicht auf meinem T-Shirt, was ich für ein Innenleben habe, sie können's nicht riechen. Und selbst wenn sie mich fragen, werden sie nach dem ersten Satz denken, ach so einer ist das, und alles andere wird sie nicht interessieren. Sie werden mich nach dem ersten Satz mögen oder verachten oder egal finden und das war's. Ich bestehe aber nicht nur aus einem Satz."

Wir werden Ihre Aussage zunächst zur Bearbeitung weiterleiten, die Vernehmung wäre zunächst beendet. Hier ist auch schon ein Auto, das Sie mitnehmen wird. Es sitzt ein Herr darin, der Ihnen sagen wird, daß er normalerweise keine Anhalter mitnimmt. Sie wissen schon.

Geben Sie nicht auf!

Und so wurde er, begleitet von schlechter Radiomusik und einem Scheißjobscheißfamiliescheißautofahrerscheiß-politik-Monolog aus dem billige Zigaretten quarzenden Mund des Fahrers, in den kleinen Vorort gebracht, wo eine Angebetete ihren Geburtstag feierte. Mo, zart und poetisch, war von ihm seit ein paar Wochen mit Shakespeare-Briefen umworben worden (ein bißchen sexuelle Revolution und chaotische Witze hatten sich zugegebenermaßen auch eingeschlichen), und alles, worauf sich seine Hoffnung stützte, war eine einzige Nacht, die Nacht nach einer anderen Geburtstagsfeier.

Mo hatte ihn da förmlich auf das freie Hochbett gezogen, und dann hatten sie gespielt, Hände waren umhergewirbelt,  die Körper hatten sich stundenlang abgetastet und die Worte hatten stundenlang behutsam Liebesverhandlungen geführt. Sie hatte gefragt: "Wer bist du?" und ihn gewarnt: "Ich bin sehr kompliziert". Als sie sein Gesicht befühlt hatte, suchend wie eine Blinde, hatte sie gesagt: "Ich weiß nicht, ob ich gebe oder du nimmst." Und er hatte lachend geantwortet: "Am besten du nimmst einfach." Und obwohl er es auch am Morgen und bei ihrem Spaziergang nicht gemerkt hatte, war es dieses Lachen gewesen, daß ihr zu einfach dahergekommen war. Doch als er gestern mit Mo telefoniert hatte, als Mo tief und echt geklungen hatte, hatte er es eine Chance genannt.

Jetzt lassen wir Ansgar hier zurück, an einem Dorfplatz, umstanden von einförmigen Häusern, die vor ihrer Sanierung sicher Charakter gehabt hatten. Der Plan: die Gäste besoffen machen, um hinterher mit Mo reden zu können.
 

5

Und She und Lena? Erlebten die letzten beiden Songs von PP nur noch mit halber Aufmerksamkeit, weil Lena zum hundertsten Mal von diesem Club schwärmen mußte, um sicherzustellen, daß She auch wirklich mitkam. "Dieser Typ, der da auflegt. Es hat mich total erwischt." She spielte ein bißchen Freuen und versuchte allerdings, sich anhand des anwesenden Anschauungsmaterials vorzustellen, wie atemberaubend toll ein Typ wohl sein mußte, um Lena begeistern. Und was für einen beeindruckenden Club so jemand wohl betreiben würde. Na haua.

Lena mochte den Gig ab dieser intellektuelleren Passage nicht mehr so, She fand es dagegen jetzt gerade erst gut, und so nützte alles Drängeln nichts, sie blieben bis zum Schluß und hörten sich auch noch die dritte Zugabe an:

You may say I'm a dreamer - and I am the only one
I don't really think you'll join me - I just hoped the world could've been this one

Der Sänger behielt recht, als alle augenblicklich zum Ausgang strömten, jeder seine Form von Flucht ergreifend: "So, Leute!" zum Beispiel oder beim Aufstehen gepreßt einatmen und in die Hände klatschen oder "Bist du morgen in der Uni?"

She, sei ehrlich, sind deine Freunde hier so viel anders? Lena ist lieb und so, auch der restliche Haufen behandelt dich gut und ist ein bißchen schräg, aber sie haben's doch nicht raus. Sie haben Acid probiert, haben mal ein Buch über Tantra gelesen, haben sich mit Reich und seinem Orgonakkumulator beschäftigt - naja, aber wenn du anfängst, über irgendwas zu reden, was dir wichtig ist, verstehen sie trotzdem KEIN WORT. Es kann doch nicht stimmen. Sie behaupten, daß die Atemübungen und Akkumulatorsitzungen sie sensibilisiert hätten, aber haben sie deshalb dein Energiefeld schon mal wahrgenommen? Ihnen müßte es doch egal sein, wie du aussiehst, ihnen müßte doch dieses Feld total wichtig sein. Und du hast eins, DU HAST EIN FELD!

Jetzt siehst du sie vor den akustischen Nachbeben in ihren Nerven flüchten und hastig IRGENDWAS sagen, um sich davon abzulenken, um es nicht erleben zu müssen.

Auch Lena war eigentlich schon längst nicht mehr hier, sie hatte einen ihrer Verehrer bequatscht, sie dort raus zu fahren, weil ihr Geheimtip ein bißchen abseits lag. (Die Geschichte zum x-ten Mal:) "Ich such also diese WG, hab langsam den Verdacht, daß der Aushang schon ein bißchen länger dort hing oder irgendwer die Wohnungsuchenden verklapsen wollte, naja, irgendwie gerate ich halt in diesen Schuppen, er ist leer und so, aber es ist auch erst Nachmittag, auf jeden Fall läuft voll die krasse Musik, irgendso'n Drum'n'Bass-Zeug, ein bißchen Jazz auch irgendwie, und ich kuck eben so, wer legt denn sowas auf, und ey, ich glaub's einfach nicht..." (und so weiter, und so weiter, sie muß es oft erzählt haben, denn die Teilsätze sind schon ziemlich lang geworden in der Zwischenzeit) "Aber wie komm ich an den Kerl ran? Der ist ja so cool. Ich stand da wie vom Donner gerührt und er reagierte überhaupt nicht."

Ein Kumpel des fahrenden Verehrers (sicher auch hinter Lena her), fragte, als sie alle jackeüberstreifend und Schals umwickelnd auf den Ausgang zu steuerten: "Wie heißt denn dieser Club überhaupt?" (Mann, gab es echt jemanden, dem sie es noch nicht gesagt hatte?)

Als hätte sie den Laden gerade gekauft, proklamierte sie, die einzelnen Wortbestandteile mit Daumen und Zeigefinger markierend: "Your-O-Disco."

Der Haufen bewegte sich die Treppe hinunter an den Hip-Hop-lastigen oder wüst politischen Sprayereien vorbei und strömte auf den Parkplatz. She überschaute noch mal, wer so dabei war und fragte dann erstaunt: "Mit wieviel Autos fahren wir denn?"

Irgendwas unklar? Such im Netz: 

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7

Außerhalb von Fonke, einem nordwestlichen Außenbezirk der Stadt, begann ein Gebiet, das zu einer bestimmten Zeit einmal an damals zeitgenössischen Industrien reich ausgestattet gewesen war.

Die Nachfrage hatte sich als vergänglich erwiesen, der Dreck, der sich in vielleicht fünfzig Jahren massiver Nutzung angesammelt hatte, war geblieben. Niemand wurde hier heimisch, es wimmelte in den alten Fabrikhallen und Mülldepots von Ratten und lauter Gegenständen und Flüssigkeiten, deren Verfallsdaten man sein Leben nicht anvertrauen mochte.

Unzählige verwinkelte kleine Straßen ergaben ein Labyrinth, in dem vielleicht irgendwo ein Geheimbund hauste. In den Innereien dieses mechanischen Wanstes irrten möglicherweise immer noch ein paar junge Leute herum, die sich von ihrer Warehouse-Party nicht mehr nach Hause gefunden hatten und die Jahre damit verbracht hatten, die exotischen Chemikalien zu rauchen oder zu schnupfen und dann diejenigen zu essen, die das nicht überstanden hatten.

Möglicherweise war hier aber auch alles so ausgestorben und leer, wie es von außen den Anschein hatte. Ein energischer Bürgermeister hatte einst den Auftrag erteilt, eine Straße durch die Industriewüste treiben zu lassen, um das durchaus riesige Areal erschließbar zu machen, aber er war wegen einer moralischen Stänkerei abgesetzt worden und so wurde die Lagerhausstraße nicht fertig. Sie endete inmitten von jahrzehntealten Röhren und Hallen und von hier aus konnte man sich nur noch zu Fuß weiterbewegen, sofern man das wollte.

Man wollte das insofern, als daß dies der einzige Weg war, in die Nuttenstraßen zu kommen - das war wirklich ein Sperrbezirk. Allzuviel wurde hier auch nicht geboten, ein paar Bordelle mit Fenstern von den Fabriken weg, davor auf den Wegen angemalte und dauergewellte Kaugummis, die wohl am ehesten aus Mitleid mitgenommen wurden. Während sich für das Industriegebiet der Name Furz eingebürgert hatte, gab es für das hier keine Bezeichnung, weil in der Stadt auch niemand gern darüber redete. Kontaktmagazine waren verbreitet, okay, aber diese Läden hier, die VENUSDELTA hießen oder BIENENKORB, waren zu schmuddlig.

Einsame, sehr verschrobene Gestalten trieb es hier hinaus, und die Nutten schienen auch ihre helle Freude an ihrem Job zu haben.

Passierte man die Phalanx der Lackstiefel und Kalkgesichter und begab sich damit noch weiter in das ehemals mit Arbeitersiedlungen bebaute Viertel, von dem seit einem Luftangriff im letzten großen Krieg eigentlich nur noch expressionistische Karikaturen stehengeblieben waren, hatte man sie wohl nicht mehr alle. Es gab für niemanden einen vernünftigen Grund, in dieser Trümmerwüste herumzulaufen. Und das schloß Wissenschaftler und Triebtäter gleichermaßen ein.

Nun gut, wenige gingen hier weiter, es gab zwischen den Steinhalden Reste von Pflasterstraßen, auf denen man einen riesigen Friedhof erreichen konnte, der Tote vergessener Kriege beherbergte und roch, als würde irgendjemand die Leichen beständig in Pfefferminzsoße am Köcheln halten und selber unablässig zwischen die Gräber kotzen.

Der Friedhof war in zehn Minuten zu umrunden, allerdings unter der Voraussetzung, daß man ein parfümiertes Taschentuch vor der Nase trug.

Tja, und dort ragten dann zwei Häuserfronten auf, die in einer Beziehung völlig umwerfend waren: In all der Verwüstung standen sie dort. Sie hatten Alterserscheinungen, hatten damals sicher polnische Fremdarbeiter beherbergen sollen, denen man irgendwie alles als Wohnung hatte andrehen können, aber sie standen immer noch. Niemand wohnte natürlich darin.

Es gab auch überhaupt nichts zu fotografieren, hier waren nur leere Gebäude.

Erst wenn man die Ohren aufsperrte, konnte man von einem unbestimmbaren Punkt ein Rumpeln vernehmen, was natürlich niemand tat, weil niemand da war, weil niemand wußte, wo das hier war und was er dort sollte.

Es rumpelte rhythmisch, allerdings nicht in konventionellen Rhythmen, außer manchmal, wenn Dimka das auflegte, was Aman dann als "Soulkacke" titulierte, Pivo aber sofort verteidigte. Dimka ließ sich (zumindest in dieser Hinsicht) nicht reinreden, denn er hatte diesen tollen Keller von seinen Eltern geerbt und hatte Hausrecht, haha. Aman hatte Getränke, Namen und Anwesenheitsdauer festgelegt, aber die Musik war ein bißchen heiliger als das.

Im ersten Jahr hatte Dimka den Keller nur an eine Band vermietet, die ihn dann aber nicht mehr haben wollte. Warum nur?

Seit zwei Jahren betrieben sie das Ganze nunmehr weitestgehend für sich. Vielleicht zwanzig Leute hatten es in der ganzen Zeit hierhergeschafft, die Musik für zu merkwürdig befunden und dann das Weite gesucht: Feiglinge, die lieber noch eine Runde drehen wollten, bevor sie sich eine von den Nutten mitnahmen; spleenige Typen, die einfach mal alle Lokalitäten der Stadt abgeklappert haben wollten; verirrte Kiddies von Warehousepartys und so weiter.

Es hatte viel Zeit zum Quatschen, zum Dartspielen, zum Skatspielen gegeben: Es wäre auch theoretisch genug Zeit für Dimka gewesen, richtig Auflegen zu lernen, aber naja, das war nicht wichtig.

Sie hatten manchmal (so wie heute) ein paar Flyer in hipperen Teilen der Stadt abgeworfen und sich dann richtig auf Ansturm vorbereitet. Dann hatten sie immer ganz viel selber trinken können.

Dimka machte MOLOKO an, Aman mischte die Karten und Pivo drei White Russian.

 

8

Das war ein Wiedersehen: Marie hatte das ganze Jahr, in dem Henry in der Welt herumgetrampt war, Unmengen von Kontakten in der Stadt geknüpft, den alten Cityschrank besser ausgekundschaftet, als Henry das vorher geschafft hatte.

Na gut, es hatte einen gewissen Startvorteil gegeben, da es weitaus seltener war, daß eine verführerisch schöne Zwanzigjährige sexuelle Angebote nicht nur annahm, sondern eigentlich eher mit Sturmgewalt pausenlos selbst welche unterbreitete. Ihr gefiel ihre Rolle als emotionelles Bindemittel einer immer weiter wachsenden Gruppe von coolen Leuten, die sich unregelmäßig sahen und eine sehr angenehme unverbindliche Vertrautheit aufgebaut hatten. Marie hörte einfach nicht auf, verliebt zu sein.

Henry war natürlich in vielerlei Hinsicht etwas Besonderes, ihn gab es, seit sie begonnen hatte, sich ihre eigene Welt einzurichten, und sie hatte Spaß daran, ihm nun sozusagen Rechenschaft abzulegen.

Sie hatten genug zu erzählen für Tage, aber Henry schien eine Sache besonders am Herz zu liegen. Er stand da auf dem Fußweg, die Hände irgendwo in den Pulloverärmeln versteckt, mit den dunklen Augen alles förmlich aufsaugend, was in ihren Fokus geriet. Aber sein sanftes Lächeln galt im Moment nur ihr, während sie, skeptisch nach oben blickend, aus dem Haus trat.

"Ich wußte nicht, daß es regnet!" beschwichtigte Henry.

"So ist das aber ein nettes Stück zu laufen", sagte Marie und vergrub ihre Hände tief in den Jackentaschen.

Sie liefen die Mohnstraße hinunter, es war nicht sehr kalt, aber der Regen tat sein bestes, immer schön von vorn zu kommen.
Henry warf die Hände weg: "Is doch aber egal, weil..."

"Ja genau, du warst gerade dabei, ein großes Geheimnis zu lüften."

"Ey, du mußt es dir nicht anhören! Es ist ja nur so, daß ich glaube, es betrifft uns. Und nicht bloß uns. Es ist diese NAILS-Geschichte. Es erinnert mich so sehr an AIDS, in jeder Beziehung." Hörbar war er bemüht, die Worte zu wählen.

"Na dann, Vorsicht, bei AIDS gab es sehr viel Informationen, diesmal ist das alles noch neu."

"Ja, na klar, aber sieh doch, alles ist so offensichtlich ähnlich. Es ist ja nicht nur die Namensverwandtschaft. Nein: wieder ist es eine Krankheit, die man sich bei etwas holt, das Spaß macht, statt beim Sex nun halt beim Essen. Wieder wie damals propagiert man einen Erreger, der völlig mysteriös ist, von dem man aber kurioserweise genau weiß, daß er absolut tödlich ist, auch wenn man nicht weiß, wie lange er braucht, um zu wirken. Wieder harte Medikation. Wieder viel Geld zu verdienen."

"Du solltest trotzdem aufpassen, daß du keine Gespenster siehst. Bei der ganzen AIDS-Geschichte habe ich dir geglaubt, weil du Unmengen von Material gesammelt hattest, und du hast recht behalten."

"Und ich sage ja nicht, daß ich jetzt sicher bin. Ich finde nur, daß irgendjemand das tun muß, was Duesberg, Lauritsen und Rappoport damals getan haben: Informationen zusammentragen."

"Die waren nur in günstigeren Positionen dazu, entweder mittendrin oder dicht dran. Und auch die haben Jahre gebraucht, um dahinterzukommen."

"Aber jetzt verdanken wir ihnen, daß uns Sex noch wirklich Spaß macht."

Der Regen nahm ganz langsam zu, um es richtig fies zu machen, und langsam weichten die Klamotten durch.
"Was willst du tun?" fragte Marie. "Es ist diesmal keine Frage, wie du es selbst handhabst, sie stecken dich ins Gefängnis, wenn sie merken, daß du mit frischen Lebensmitteln handelst; ein freundlicher Arzt wird dir all das Rattengift verschreiben, wenn er den Eindruck hat, du hast etwas Frisches zu dir genommen. Du kannst nicht einfach sagen: Ich mach nicht mit."

"Hmm. Knifflig. Aber ich denke, ich kann mich erstmal um Informationen kümmern."

Marie sprang an ihm vorbei auf eine kleine Mauer und lachte: "Ich will dir auch nicht die Lust daran nehmen. Mach man."

Henry stellte sich vor sie, breitete die Arme aus und proklamierte wie Darth Vader mit einem Helge-Schneider-Sprachprozessor: "Je mehr (fffffffhh) Sex ich habe, desto rebellischer (fffffhhh) werde ich, je mehr ich rebelliere, desto (fffffh) größer wird meine Lust auf Liebe." Er drückte sie an sich, seinen Kopf an ihren Bauch geschmiegt.

Der Regen fiel jetzt irgendwo anders.

Marie legte ihren französischen Akzent auf: "Henry, eigentlisch 'ast du räscht. Sie ?aben alle ihren Spaß verloren an Sex, sie machen alle niescht solsche Schweinereien wie wir. Und es wäre schade, wenn das Essen nun genauso lustlos ausse'en würde. Weißt du, Essen mit Kondomen!" Sie nahm seinen Kopf in die Hände und küßte ihn schmatzend auf den Mund.

Genießender Henry, dann wieder ernster Henry: "Und es wäre schade, wenn sie alle die tolle medizinische Versorgung bekommen würden wie damals. Heilungskrebs."

"Laß uns weiter gehen. Sonst holen wir uns noch was weg." Sie mußten beide laut lachen und setzten den Weg in Richtung Fonke fort.

"Na sag, kann ich im Vergleich mit den anderen Typen überhaupt noch mithalten?"

"Mit denen schon. Mit den Damen nicht, die sind eine Klasse für sich."

In der Folge breitete Marie eine Reihe pikanter Details aus, die wir hier nicht wörtlich wiedergeben wollen, da es sich um solche Sachen handelte wie zum Beispiel die Geschicklichkeit der Zunge eines gerade 14jährigen Mädchens; die Liebeserklärungen an ihre Vaginalmuskulatur, die sie wiederholt bekam (sie konnte eine Vorhaut mit jenen Muskeln direkt anfassen und auf und ab reiben: das war Henry auch neu); außerdem erzählte sie von den vielen Kerlen, die sich irgendwie auferlegt hatten, keinen Spaß dabei zu haben, wenn es nicht ihre feste Freundin war; von ihrer immer weiter sinkenden Hemmschwelle ("Verdammt, es schmeckt, es schmeckt, es erniedrigt mich nicht, es schmeckt!"); und natürlich von dem einen Versuch, eine spirituelle Gruppe ins Leben zu rufen, die mit sexuellen Einweihungsriten arbeitete, eine völlige Pleite, weil außer ihr fast nur Kerle dort gewesen waren, und die schienen eigentlich nur ihre Verklemmtheit abbauen zu wollen, naja, und nicht mal das klappte.

Jedenfalls können wir diesen langen Teil des Gesprächs, in dem unablässig gepoppt wurde, getrost überspringen. Die beiden liefen auch durch keine eben besonders aufregenden Teile der Stadt, vor allem im letzten Drittel des Weges.

Sie waren schon am Friedhof vorbei und Marie resümierte gerade: "Ich habe also ziemlich für Entspanung gesorgt, glaube ich, aber richtig geknallt hat es irgendwie nicht. Weißt du, ich hab ein paar mal damit experimentiert, so ein Stück Orgontherapie wie vorhin als Vorspiel oder Zwischenspiel einzubauen, aber stell dir vor, sie haben Angst bekommen, ja, sie dachten, ich wäre psychotisch oder besessen oder so. Naja. Drogen kamen allgemein besser an. Es hat nur niemanden so richtig an der Wurzel gepackt, verstehst du?"

"Jötz bön öch jö wiedör dö", machte Henry.

"Was, willst du immer dabei sein?"

"Ja klar, ich nehme Messungen vor und..."

"Hey, ich glaube, wir sind da - das sind die Fassaden, die noch stehen, und jetzt sollen wir immer dem Ton nach."

Sie gingen langsam, angestrengt lauschend, in eine Tordurchfahrt und gelangten auf einen Hinterhof. Ein paar verrostete Mülltonnen klapperten, aber nicht vom Wind, nein, Lust war's, die sich hierhergewirbelt hatte, sich zu manifestieren unter dem zelebrierend' Volk, ihren Segen zu geben und ihren Lieblingen dieser Nacht zu folgen. Nur hatte sie sich an der Tonne übel den Fuß verknackst. Gut, daß Liebe gerade vorbeischaute (den Regen erstmal zum Aufhören brachte) und sich herniederbeugte, um einen heilsamen Kuß auf den schmerzend' Knöchel zu spenden. Und wo sie einmal hier war...

Eine schmale Treppe führte in den Keller und drinnen war es - total voll! Hatte Lena nicht gemeint, es wäre der absolute Loserladen, in den keiner geht. Was war denn hier passiert?
Es standen lächelnde Menschen in den langen, mit merkwürdigen Plakaten und wissenschaftlichen Schautafeln behängten Gängen, in angeregte Unterhaltungen verwickelt, für die Stunde auch schon erstaunlich häufig mit sexuellen Anbahnungen beschäftigt. Man tat halt, was man konnte. Das schwer überschaubare Durcheinander an Räumen, die mit unterschiedlichen Farben beleuchtet und mit verschiedenen Düften beräuchert wurden, war vollständig mit Matratzen ausgelegt, auf denen es sich kreuz und quer bequem gemacht wurde. Auf unerklärliche Weise roch es weder muffig noch verraucht. Wie ich bereits anmerkte, genoß dieser Ort meine Aufmerksamkeit. Marie war fleißig am Begrüßen und Umarmen und stellte fest, daß überraschend viele Angehörige des liebenden Häufchens zugegen waren, dessen Verbindung sie so gerne spielte. Partykonversation:

"Nein, ich hab das noch nie gehört, das wäre das erste Mal, daß zwei Präsidenten etwas miteinander hatten."

"Und der Witz ist, daß ich jetzt nicht mehr Falschgeld drucken würde, sondern mit dem MIT-Drucker lieber eine Kreditkarte."

"Wenn du in Polen trampst, scheinen sie überhaupt nicht zu überlegen: Warum sollte ich den jetzt mitnehmen? Es ist eher: Warum nicht?"

Aber die Musik! Als Marie den Raum betrat, über dessen Eingang ein Pappschild mit der roten Eddingaufschrift WITCH DANCE FLOOR prangte, blubberten ihr Töne entgegen, die so außerirdisch klangen, daß sie sich sofort heimisch fühlte. Sie hatte noch nie gesehen, daß irgendwo so getanzt wurde wie hier. Es sah merkwürdig rituell aus, obwohl sie ja alle zum ersten Mal hier zu sein schienen. Es hatte Stil und Rhythmus - und es war sexy. Oh, die Klänge der Maschine sind's, die mich so gern hier verweilen lassen, obgleich mich dünkt, es wäre ein viel treffenderer Ort für Lust! Meine Gute, sagen Sie, was treibt Sie erst jetzt zu dieser Stelle? Lust erwiderte: Ich bin, wo sich vermischt wird, um aus Treffen Abenteuer zu schaffen; wo jedoch niemand ist, gibt's nichts zu tun für mich: Nur die Liebe kann dann Hoffnung an diesen Platz pflanzen, was Sie wohl auch getan haben, nicht wahr?

Die Blubbermusik ging langsam zu Ende und Dimka schien von fließenden Übergängen oder überhaupt von Übergängen nichts zu halten. Er hatte eben noch nichts gefunden, was jetzt paßte, also entstand eine Pause, üblicherweise Gelegenheit für alle, ein bißchen herumzumosern, aber diese Gewohnheiten galten hier einfach nicht. Geduldig wurde abgewartet, womit es weitergehen würde, und schließlich war es etwas völlig anderes, diese krasse Single von HELMET und den SPICE GIRLS, und es gab ein Gehopse vor dem Herrn:

"What part of no don't you understand? Dig?"

Energiegeladen markierten die Gitarren die doppelten Bassdrumkicks am Taktende, die Stimmen schwebten im Satzgesang darüber (es schien sich gelohnt zu haben, daß die Mädels bei EN VOGUE gelernt hatten), es waren harte Engel und sphärische Knüppel.


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