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  "Eins auf's Auge.
Es könnte alles falsch gewesen sein."

Entstanden im Sommer 1999: hier die ersten Kapitel zum Reinlesen.

Hier das ganze Buch bestellen (5,- €)
 
 

VORGESCHICHTE

Oh Mann, jemand hatte graue Farbe über die in dieser Unterführung dahinstaksenden Gestalten geschüttet! ‚Tut doch was!' dachte ich. Sie waren nicht nur alle farblos geworden davon, sie schienen auch am Fußboden festzukleben - und ich mußte doch zwischen ihnen durch! So alt wirkten sie alle gar nicht, aber sie wollten offenbar einfach nirgendwohin, sie hätten sicher gerne einfach stehenbleiben wollen, um ein Schwätzchen zu halten - im Gegensatz zu mir: ich wollte nicht nur aus diesem halbdunklen, mich mit Brötchen, Fischen und Reiseprospekten vertreibenden Tunnel verschwinden, ich wollte endlich nach Hause.

Oh Mann, mein Arm drückte noch von der Plasmaspende am Mittag, und so angenehm es gewesen war, mich danach bei der Englischnachhilfe mit völlig beknackten Beispielen und verstellter Stimme austoben zu können - jetzt sehnte ich mich nach Civilization II, heißem Wasser in der Tasse und aus der Brause, nach Masturbation und Schokolade.

Na hoppla, der Aktionskünstler mit dem grauen Farbtopf war zwar nicht mehr zu sehen, aber ganz sicher betrachtete er das Resultat aus einer Imbißbude heraus. Ein sich mühsam fortbewegendes Pärchen zum Beispiel - Pärchen? Die Farbe war wohl bis ins Gehirn eingesickert, und es verlangte mich zu fragen: "Schöne Frau, langweilt sie die Flasche nicht?" Und gleich danach: "Flasche, langweilt dich die schöne Tante eigentlich?"

Ich erreichte die Treppe ins Licht, hinauf zum Pir-naischen Platz und - oh Mann, der Kerl mit dem Grau war vor mir dagewesen und hatte jedem hier eine Ladung ins Gesicht geschüttet.
"Melden beim Abschnittsbevollmächtigten"

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Bahn kam. Ich hatte ein Überlebenspack Zigaretten dabei und wußte schon genau, wie ich den Babyloniern später gleich ein paar Städte abnehmen konnte, ich mußte nur rechtzeitig Metallurgie entdecken, dann wäre ihre Große Mauer unwirksam und ich würde ihnen mit Kanonen auf den Pelz rücken.
"Vorsitzender des Staatsrats der DDR und Generalsekretär - hähä"

Besser war noch die Idee, mit dem Editor das Szenario fertigzubasteln, in dem sämtliche Fortschritte nur auf den Gebieten des Drogenanbaus, Drogenhandels, der Drogenverarbeitung und des immer bewußteren Drogenkonsums erzielt werden konnten und ich die anderen Zivilisationen in der Pfeife rauchen konnte. Aber irgendwie war der Editor zu unflexibel dafür, es lief immer auf Krieg hinaus.
"Merk dir eins, Genosse, wir kämpfen fürn Frieden!"

Wer erzählte denn dieses Zeug die ganze Zeit? Ich sah mich um und entdeckte einen völlig verwitterten Alten, dessen Schmunzeln fast auseinanderzufallen drohte und der, die Hände hinter dem Rüc-ken, um das Wartehäuschen herumschlurfte, dabei in gewissen Abständen mit seltsamer Stimme
"Große Sozialistische Oktoberrevolution" oder Ähnliches quakte und dann mit Kinderaugen die Reaktionen erwartete. Offiziell blieben diese aus, aber praktisch verlor beispielsweise diese in ein labskausfarbenes Stück Sofabezug gewickelte Frau beinahe ihre Brille, als es hinter ihr "Pioniere und FDJler!" tönte.

Mir gefiel das Spiel. Der Alte und seine zerbombte Zahnleiste wanderten aus meinem Blickfeld, dafür interessierten mich die Fest- und Zugeklebten, die immer ruckartig in Bewegung gerieten, wenn sie die verdrängten Wörter hörten. "Der räuberische Imperialismus - hähähä"
Nach erstem Schreck ging das leichte Unbehagen in immer deutlicher sichtbare Empörung über. "Planübererfüllung"

Sie hofften alle inbändig auf ihre Bahn, während ich mich allmählich zu entspannen begann und belustigt rauchte. Ihr Unbewußtes lief dort herum, außerhalb der Nacht und des Betts und des Traums, und es posaunte all das aus, was man doch nicht mehr sagen konnte. Wie sie ihre Halstü-cher zurechtzupften! Wie sie wegsahen oder hinsa-hen oder nach unten schauten oder in die Wolken! Ein Tanz der Angeklebten, choreographiert von ei-nem zahnlosen Irren, der nur noch das sagte, was sie nicht in ihr Neusprech übernommen hatten. "Partei" - zuck, "Genosse" - hüstel, "Antifaschisten in vorderster Front" - hoch die Augenbrauen! Und alles für mich.

Weil sie es mal geglaubt hatten, weil es mal ihre Gebete gewesen waren, weil sie dann gar nicht ge-wußt hatten, wieviel davon falsch gewesen war und warum und wie sie es hätten loswerden können und weil jeder etwas anderes behauptet hatte und jetzt immer noch keine VERBINDLICHE REGELUNG von der Partei herausgegeben worden war, wie das alles zu behandeln war.
Der Alte hatte wahrscheinlich am Straßburger (hähä, Fucikplatz!) ein paar Autos auf den Gleisen zusammenstoßen lassen, damit das hier schön lange dauerte. Sonst waren die doch immer so schnell weg. Und sonst schien es ja auch niemandem zu gefallen - tatsächlich schien er mitbekom-men zu haben, und das war beachtlich, daß ich eigentlich nur darauf wartete, daß er mir den Hut hinhielt, damit ich etwas geben könnte.

Aber die Vorstellung war vorbei, als eine umgeleitete 4 sie alle zum Postplatz mitnahm, und sie wollten sicher alle lieber dort auf weiteren Anschluß warten und den bösen Geist hier zurücklassen, soviel war sicher.

Ich blieb noch sitzen, und der Alte kam zu mir herübergewackelt, präsentierte mit einem lieben Lächeln das stomatologisch sehr interessante In-nere seines Mundes und kramte in einem alten Einkaufsbeutel herum.

Schließlich hielt er mir einen kleinen Notizzettel hin, auf dem eine Tabelle zu sehen war. Er wedelte kurz damit und ich sagte Danke und nahm das Blatt. Ein Nicken und ein schnapsgeladenes Lachen und er ging hinüber zu einer anderen Tanzgruppe.

Der kleine Zettel war kraklig beschriftet, oben stand bescheidenerweise ALLES. Darunter war eine Ta-belle mit einem Kopf, drei Spalten und sieben Zeilen. Ich schaute noch einmal hinüber zu dem Alten, aber der kümmerte sich nicht mehr um mich, also besah ich mir die Sache genauer:

 "Hä?" machte ich, glaube ich, und "ähm" und ähn-liche intelligente Bemerkungen und sah auf, um den Alten prüfend ins Visier zu nehmen. Aber der war lachend und quakend in der Unterführung ver-schwunden.
Eine eingebeulte 2 kam und ich fuhr nach Hause.

 

Ich versuchte dann, alle meine Vorhaben für den Abend umzusetzen, aber es war wie immer zu früh und zu spät. Ich zelebrierte mir einige Teller Sol-janka hinein und wurde müde. Beim Gedanken, am besten erstmal einen Kaffee zu kochen, schlief ich ein.

Jina rief an und ich bekam es nicht mit, Ingo klin-gelte vergeblich, ich träumte von klebriger Farbe (beängstigend, wessen Farbtopf?) und Jina (schön, schwebend).

Ich ließ es klingeln, wer rief denn hier dauernd an, es war ja schon 11, was 11 morgens? Quatsch, si-cher 11 abends, es würde schon aufhören zu klin-geln, es war aber hell, es war sicher morgens, es war 11? Ja, 11:54, großer Gott. Aufgestanden machte ich den Rechner an, latschte in die Küche und füllte den Wasserkocher. Ich fing ein Civilization-II-Spiel an, das Marsbesiedlungsszena-rio mit den futuristischen Technologien, sieben ir-dische Nationen mit Kolonien auf dem Mars ver-treten und meine die meiste. Waren ja gleich Nach-richten, Fernseher an, ging die Uhr eigentlich vor oder nach? Wieso verhindert Schuld eigentlich Selbstbewußtsein? Das Telefon. "Was machstn heute Abend?" - "Weiß ich noch nich." Nachrichten. 

Die Uhr ging doch vor. Ob das Wasser nicht langsam kochte? Dazu hätte ich es anstellen müssen. Okay. Das war doch Mark am Telefon, hätte ich doch gleich mal fragen kön-nen, ob er mit ins Kino kommen wollte. Am besten, ich holte erstmal Brötchen. Nach den Nachrichten. Warum fingen die eigentlich nicht an? Wenn mich jemand einer Sache beschuldigt, fang ich an, drü-ber nachzudenken, so reflexionstechnisch. Dann konnte ich gleich noch nachsehen, ob die Post da war. Ach Mann, ehe ich noch rumsaß, bis die Nachrichten kamen, konnte ich auch los. Die Post war noch nicht da. Wieso waren das eigentlich auch 7 Zivilisationen auf dem Mars? Weil 6 Gegner die höchste Konkurrenzstufe bei Civilization II dar-stellten. Nachts ist es meist dunkel, und hell wird es dann am Tag. Zwei doppelte Brötchen, eine Mark und vier. Aber es war gar nicht so verkehrt, die Be-schuldigung sorgt natürlich dafür, daß ich mir kein eigenes Urteil bilden kann. 

Was stand auf dem Zettel denn noch so drauf? Und wo hatte der Alte das hergehabt? Die Post war am Ende der Straße, nach 12, pee-mail.  Das Telefon klingelte schon wieder, ich schloß schnell die Tür auf, nahm ab und hörte nichts. Ach so, das Wasser nochmal an-machen, bis es kochte, konnte ich ja noch ein, zwei Städte auf dem Mars gründen. Sieben Zivilisatio-nen, allerdings ohne spezifische Eigenschaften, es war, abgesehen von der jeweiligen Startposition auf der Karte, ziemlich wurscht, wen man spielte. Sie-ben verschiedene Herangehensweisen. In einigen Szenarios hatten sie das ja versucht einzubauen, bestimmte Völker von vornherein mit charakteristi-schen Weltwundern ausgestattet, die ihnen be-stimmte Startvorteile boten, oder eine nicht verän-derbare Regierungsform festgelegt. Naja. Das Was-ser. Ich gab noch schnell die Verteidigungseinheit in Auftrag und "Es ist 12.30 Hier ist Euro-News mit den Nachrichten. Diplomatischer Druck auf Milose-vi? erhöht. NATO-Sprecher schließt militärisches Eingreifen nicht mehr aus." In Zeitlupe kulminierte das Chaos. Ähnliche mißglückte Sätze; ich hätte doch nochmal kommen sollen, bevor ich alles auf Empfang gestellt hatte.

Irgendwann gelang es mir, Teebeutel in heißes Wasser zu hängen, Brötchen zu belegen und den leeren Briefkasten zu öffnen, so daß jetzt der Au-genblick gekommen war, in dem Clem anrufen konnte. Ich sagte ihm, daß ich gehört hätte, es gäbe ein neues Sid-Meier-Spiel, das an der Stelle an-fängt, wo Civilization aufzuhören pflegte, bei der Besiedlung des Alpha Centauri. Wie umarmt man einen Telefonhörer? - "Ich hab es." -   Welche Bahn fuhr zu Clem? - "Und es gibt ja auch eigentlich ei-nen Kopierschutz." - Wo waren meine Schuhe?
 
 

Unter Süchtigen gibt es keine echte Dankbarkeit, die Rede ist vom Silberling, den das hochtourende Laufwerk wie einen Heroin-Schuß aufkochte. Ge-fühle der Verbundenheit mit Clem konnten erst viel später aufkommen, nach dem Stillen des akuten Hungers, dann gab es vielleicht Zeit für die Freude über seine Hackerkünste, seine Verbindungen, seine Informationsverliebtheit, dann wurde das Dealerverhältnis vielleicht wieder zu einer Freundschaft.

Den Nachmittag, den Abend und die Nacht herrschte jedoch ein semibewußter Zustand, der körperliche Bedürfnisse als Fundi-Fraktion auf die billigen Plätze verbannte, um die Schußlinie zwischen den lechzenden Nerven und dem Bildschirm freizuhalten. Bis die Augen flimmerten, bis die Hand zuckte und wenigstens einmal der ganze Fortschrittsbaum bis zu den entwickeltsten Technologien durchgespielt war.

Es war eine Offenbarung. Es gab fünf Arten zu ge-winnen, neben dem bekannten Weg durch allge-meines Plattmachen der Konkurrenten auch eine Art UNO-Sieg der friedlichen Koexistenz, einen alli-ierten Sieg, einen wirtschaftlichen Sieg und die Transzendierung der Menschheit als solcher.
In ähnlicher Weise war die Welt der zu entdecken-den Ideen aufgerüstet worden: Es wimmelte vor Quantenphysik, Zen-Buddhismus, Umweltbewußt-sein und wachem Individualismus. "Einstein würde sich in seinem Grabe umdrehen: Gott würfelt nicht nur mit dem Universum, er schummelt sogar." Nietzsches Homo Superior, der schaffende Über-mensch, stand auf dem Programm, Lao-Tse und das Schweigen der Lämmer wurden zitiert. Wenn man die verdammten Siedlereinheiten, die jetzt Former hießen,  automatisierte, damit man nicht mehr selbst Straßen und Bodenverbesserungen anlegen mußte, dann machten sie das wirklich ganz allein und rodeten nicht mehr sämtliche Wäl-der wie bei CivII.
Kurz, es war zum Bemachen.

Während ich den Bildschirm zur Steuerung der In-nenpolitik (Alpha Centauri-Sprech: Sozialtechnik) erforschte, schrieb ich dieses Gedicht nicht:

Politik wird störend oft empfunden
Weil sie mit Gesetz verbunden
Denn ist beides nicht zur Hand
Wichst man auf den Tellerrand
Frauen lecken öffentlich
Und warum auch ainklich nicht?

Als ich die erste Meereskolonie gründete, rief ich Ewa nicht an, um ihr meine Ratlosigkeit ihr gegenüber zu schildern, die ich mit ihrer Ratlosigkeit zu verbünden gedachte.

Als ich in zähen Verhandlungen den ersten Alliierten gewann, schmurgelte ich mir nichts lecker Gewürztes in der Pfanne zusammen.

Als ich bemerkte, daß die Allierten von der Gottesgläubigen-Fraktion ihr Bündnis mit mir brachen, weil ich weiterhin Demokratie als politische Sozialtechnik eingestellt hatte, las ich nicht nochmal in der MARX BROTHERS RADIO SHOW:

        MRS. VANDERGRAFF: Also ich werde nicht hierbleiben und mich beleidigen lassen. Ich gehe.
        GROUCHO: Nein, nein. Sie dürfen nicht ge-hen und mich hier allein zurücklassen. Bleiben Sie         hier, dann kann ich gehen.
        MRS. VANDERGRAFF: Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll.
        GROUCHO: Gut, dann sagen Sie, daß Sie für immer mir gehören oder für immer die meine sind         oder mein für immer. Das Leben ist kurz, lassen Sie's uns leben, denn schon morgen kann der         Herr des Hauses vor der Tür stehen und die letzte Miete verlangen.

Als ich es geschafft hatte, zum ersten Mal aus den Wahlen zum Planetenkonzil als Gouverneur hervor-zugehen und die Idee der UN-Charta auf Alpha Centauri verstand, stellte ich nicht fest, daß No Control von Bad Religion bereits das neunte Mal durchlief, so daß die Texte nur unbewußte Spuren hinterlassen konnten, tief genug, damit ich die Songs bei nächster Gelegenheit noch gründlicher mitsingen könnte (zum wahrscheinlichen Mißbeha-gen der Anderen im Auto).

Ich sah gar nichts mehr auf dem Schirm, weil die Sonne blendete. Die Sonne? Es war...
Ob sie das stört, daß sie dabei zuschaut? Ob es da-mals gestört hätte? Augen statt Münder. Ist das peinlich? Denken sie, daß das peinlich ist? Denken sie, daß ich denke, daß es peinlich ist? Oder denke ich nur, daß sie das denken? Augen statt Münder.

Ich wachte auf und stellte fest, daß ich aus zehn Zentimetern Höhe auf die Tastatur gesabbert hatte.
Es waren 7. Es gab 7 verschiedene Philosophien der Herangehensweise auf Alpha Centauri. Gab es Übereinstimmungen mit dem Zettel?

Halbwach durchkramte ich mein Zimmer und fand die Tabelle des zahnlosen Alten in meinem Ruck-sack unter einem Apfel. Aber essen konnte man ihn nicht mehr, aber lesen konnte man ihn noch.
Na klar: Morgans Witschaftsmonopolisten standen für den Zins, das war recht eindeutig. Die Gaianerfraktion repräsentierte den Gegensatz von Natur und Technik, okay. Weiter korrespondierten die UNO-Pazifisten unter Bruder Lal für den erwachsenen Freien Willen. Die Gläubigen und Schuld - paßte. Yangs Kollektivisten und Arbeit - auch. Die Planet-Universität von Akademiemitglied Zakharov sahen nach dem Inbegriff von Expertenwissenschaft aus. So, blieb für Ansteckung nur die Kriegerfraktion der Spartaner, ergab das Sinn? Ich wußte noch nicht so recht, was mit Ansteckung gemeint war.

Aber irgendwie sah es nach einem ähnlichen Schema aus, zumindest kurz nach dem Wachwerden. Es war gerade kurz vor 9:

Ich beschloß, diesen kleinen Zettel zu einem ganzen Haufen Zettel auszuarbeiten, vielleicht erst einmal mit der obersten Zeile anzufangen, um zu sehen, wie sinnvoll sich das anließ. Das sah nach ein paar ausgefüllten Wochen aus.

Ich brauchte ein Modem. Ich brauchte eine Zeitung. Und ich mußte meine Bibliotheksgebühren bezahlen.

Vielleicht sollte ich erst ein bißchen Alpha Centauri spielen, das war ja nun auch irgendwie Nachforschung. Nein (so stark war ich im Moment!), die Läden machten gerade auf! Höchstens eine Viertelstunde, bis ich so ein GravSchiff bauen konnte, das die Vorzüge von Helikopter und Flugzeug vereinte.

ENDE DER VORGESCHICHTE

Erst ganz zum Schluß war ich mir sicher, wem ich das Produkt widmen würde. Ganz zum Schluß werdet ihr das verstehen: "Für Robert Gallo, der auf einnehmende Weise und mit lebendigem Geist eine Theorie vertritt, die ich für kurzsichtig und gefährlich halte."
 
 

Der Priester blickt auf die sieben Haufen, auf denen es betriebsam wuselt und kracht. Niemand blickt zu ihm, obwohl er das größte Geheimnis in der Hand hält: die Vereinigung, Religion.

DIE SIEBEN LEBENSLÜGEN DER ZIVILISATION

  Thomas J. West sieht in der "Angst vor Ansteckung die Angst davor, sich bei intensivem, lustvollem, natürlichem Austausch mit andersartigen, vorzugsweise anderen sozialen Schichten  oder Nationalitäten angehörenden Menschen großer Lebendigkeit oder vermuteter Lebendigkeit, ebenso bei Austausch mit Lebewesen und natürlichen Prozessen insgesamt, ETWAS EINZUFANGEN." (Hervorhebung im Original)

Diesem Bild folgend läßt sich eine enorme Angst vor KONTAKT mit der lebendigen Außenwelt konstatieren. Der Wissenschaftler, der sich am eindringlichsten mit dem Problem des Lebendigen und der Entfremdung davon auseinandergesetzt hat, ist zugleich einer der produktivsten dieses Jahrhunderts, Wilhelm Reich (1897-1957). Er unternahm den Versuch, das Medium, durch das Lebendiges miteinander verbunden ist, wissenschaftlich zu fassen. Er hatte in seiner langjährigen Praxis als Psychoanalytiker und bioenergetischer Therapeut eine prinzipielle Einschränkung des lebendigen Ausdrucks bei seinen Patienten beobachtet und folgerte nun, auf seinem Lebensenergiekonzept aufbauend, daß der Fluß des lebendigen Mediums im Menschen gestört sei und der Mensch sich gegen das Wirken dieses natürlichen Stroms in seinem Organismus "gepanzert" habe, es also offensiv zu verhindern suche.

Für Reich war das lebendige Medium die formgebende und materiebildende Kraft an der Wurzel zahlreicher Naturprozesse, und er postulierte im menschlichen Wahrnehmungsapparat einen primären Sinn für dieses Medium, der durch die Störung des Energieflusses ebenfalls stark beeinträchtigt sei. Im natürlichen Ausdruck und der natürlichen Wahrnehmung behindert, habe sich der Mensch "Krücken" geschaffen, die bestimmte Funktionen des lebendigen Mediums simulieren können, aber eben den KONTAKT nicht herstellen.

Kontaktmangel ist in Reichs Argumentation einer der zentralen Gründe für die massenhafte Verbreitung von psychischen, psychosomatischen und somatischen Erkrankungen, ebenso für eine Reihe von sozialen Entfremdungsproblemen.

Reich warf in einem seiner letzten Bücher, in dem er die Probleme des Lebendigen philosophisch und religiös zu beschreiben versuchte, die Frage nach dem Ursprung der Panzerung auf.  Er sprach von einer Falle, in der die Menschen sitzen, die sie sehr gut beschreiben können, in der sie es sich ganz gut eingerichtet hätten; aus der sie aber nicht auszubrechen vermögen, da sie vor der Welt außerhalb der Falle Angst entwickelt haben, da sie selbst ein Teil der Falle sind und letztlich in sich selbst gefangen sind.

Die Grundfrage jedoch bleibt: Warum und unter welchen Umständen ist der Mensch überhaupt in die Falle getappt? Wie konnte es dazu kommen, daß die in vielerlei Hinsicht entwickeltsten Lebewesen auf diesem Planeten ihren primären Sinn und ihre primäre Ausdrucksfähigkeit einbüßten?

Ohne auf Reichs Fragestellung einzugehen, sind verschiedene Antworten gegeben worden:
Die Christen betrachten die menschliche Entfremdung letztlich als Erbsünde und warten auf Erlösung von der Falle.

Die Marxisten schrieben die Panzerungsprobleme der Warenwirtschaft, dem Privateigentum und der Klassenspaltung zu, lehnten also die Blockierung des Lebendigen als Ursache ab.
Reich selbst bot mehrere Antworten an, favorisierte zuletzt vor allem die Überlegung, daß die Entwicklung des selbstbewußten Denkens das Dilemma ausgelöst haben könnte. Die Fähigkeit, lebendige Prozesse bewußt zu kontrollieren, wurde zu einem Zwang und möglicherweise erkauft durch den Verlust an (unbewußter) natürlicher Steuerung. Reich illustrierte diese Vorstellung durch die Geschichte vom Tausendfüßler, der keinen Schritt mehr tun kann, nachdem er zum ersten Mal darüber nachgedacht hat, wie er geht.

Ein gut fundierter,  moderner Ansatz, der auf Reich ausdrücklich Bezug nimmt, ist die SAHARASIA-These von James DeMeo.  Nach der computergestützten Auswertung einer Fülle von historisch-ethnologischen und historisch-klimatischen Studien stieß DeMeo auf zwei riesige Umwälzungsprozesse auf diesem Planeten, die beginnend vor etwa 6000 Jahren nahezu synchron verliefen.

Zum einen ist für diesen Zeitpunkt und die Zeit seither die Entstehung und Ausbreitung der großen Trockengebiete der Erde nachweisbar, zum anderen spielten sich in unzähligen Kulturen in den betroffenen Gebieten immer gleiche Szenarien des Triumphs einer eher kriegerisch-männlich-hierarchischen Ordnung über eine ursprüngliche eher friedlich-weiblich-demokratische Struktur ab.

Diesen Umbruch führt DeMeo auf zwei wesentliche Faktoren zurück. Das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Desertifikation trieb Bewohner vormaliger fruchtbarer Feuchtgebiete (betroffen waren zu Beginn vor allem die heutige Sahara, Arabien und Zentralasien, daher das Akronym Saharasia) in die Flucht, ganze Kulturen gingen auf die Suche nach Lebensraum, getrieben von nacktem Hunger. Die traumatische Wirkung von Unterernährung ist evident: organische Schädigungen, Mißbildungen. Ein zweiter Faktor gab jedoch Ausschlag für die weitere Entwicklung. Auf den langen Wanderungen konnte sich nicht mehr angemessen um die Kinder gekümmert werden, sie wurden auf den Rücken geschnallt und ruhiggestellt. Da es unzählige Völker gab, die nicht mehr fündig wurden, wurde das rastlose Umherziehen Normalzustand, ebenso die Vernachlässigung und Beschränkung der Kinder: der ganze Körper eingewickelt, in ein enges Tragegestell gezwängt, zur Regungslosigkeit verdammt.

Diese Kindergeneration wurde so systematisch dem Lebendigen entfremdet, sie wurde unfähig zu lebendigem Ausdruck, sie prägte die natürliche Umwelt als feindlich ein, sie konnte auf andere Menschen nicht mehr als Quelle von Energie vertrauen. Sie strebte nach Ersatz für den verlorenen Kontakt und gab die Vernachlässigung an die nächste Generation weiter, wodurch die Pädagogik der weiteren Geschichte nachhaltig geprägt wurde.

Obwohl es, wie erwähnt, weiter ein Rätsel bleibt, warum es diese Fluchtbewegung weg von der Natur eigentlich gibt, ist es zweckmäßig, die weitere Dynamik anhand von DeMeos Modell zu betrachten.

Während am Beginn des gesamten Prozesses einige Kulturen andere überfielen, um den eigenen Landverlust auszugleichen, trat nun ein Hunger nach Eroberung auf den Plan. Die Wüstenvölker schufen sich kriegerische Hierarchien, die plünderten und raubten, ohne sich selbst irgendwo wieder anzusiedeln. Sie begannen, sich schneller zu verbreiten als die Trockengebiete selbst. Viele Kulturen wurden in diesen Kriegen ausgelöscht, andere unterworfen (Ägypten) oder nachhaltig verändert. Hervorstechende Gemeinsamkeit ist die Spaltung der unterworfenen Kulturen: die Krieger der Wüstenvölker bildeten eine herrschende Kaste, denen die ursprünglichen Gemeinschaften in mehreren Abstufungen untergeordnet waren. Die innere Spaltung der traumatisierten Krieger wurde auf die sozialen Systeme der eroberten Kulturen ausgedehnt. Die Gesellschaften wurden in Teile zerlegt, die sich aufgrund ihrer verschiedenen Position in der Hackordnung feindlich gegenüberstanden.

Der herrschenden Kriegerkaste ging es nicht um Entwicklung der Kultur oder um nachhaltiges Wirtschaften, sondern lediglich um den Machterhalt, Kompensation für die eigene Lebensentfremdung.

Weitere Eroberungszüge trugen die gespaltene Ordnung nach Europa und verbreiteten sie schließlich weltweit. Die einmal veränderten europäischen Kulturen agierten aufgrund ihrer technischen Entwicklung schließlich als Motor, der kolonisierend die soziale Spaltung auf allen Kontinenten installierte.

Die Entdeckungen der frühen Saharasia-Periode wurden in den Dienst der Herrschaft gestellt: Geld, Privateigentum, rituelle Spiritualität, analytische Logik.

Kennzeichen für die Abwendung von natürlichen Rhythmen und die fatalen Folgen sind Verödung weiter Landstriche durch landwirtschaftlichen Raubbau, die Ausbreitung von Seuchen in den vermassten Städten und die sich immer wieder in Bürgerkriegen und Feldzügen entladende Naturentfremdung.

Es entstand so das Weltbild, das für die Zivilisation bis heute prägend geblieben ist. Im Zentrum das Ich, das von seinen lebendigen Körperfunktionen abgetrennt ist und sie zu beherrschen sucht, in der Außenwelt mit wachsender Entfernung immer gefährlichere andere Menschen, die anderen Klassen angehören, andere Lebensweisen haben, die an das eigene Lebendige erinnern; noch weiter entfernt andere Völker, in späterer Terminologie "Rassen", per se minderwertig und gefährlich. Alles umgebend und einfassend die allgegenwärtige Natur als ständige Bedrohung, als ständige Erinnerung an das feindliche Lebendige.

Im frühen Mittelalter wirkten mit dem Christentum, das die Natur und ihre Äußerungen als "Fleisch" verdammte, und der beginnenden reduktionistischen Wissenschaft, der der ursprüngliche Sinn für Naturzusammenhänge "unexakt" erschien, zwei Kräfte zusammen, die die noch erhaltenen lebensbejahenden Strukturen auszumerzen begannen. Zielscheibe waren die europäischen Hexen, die das intuitive Wissen um Naturprozesse (vor allem Schwangerschaft und Sexualität, Gesundheit und spirituelle Verbindung) bewahrt hatten und ein Bild verbreiteten, das für die gespaltene Gesellschaft und ihre gespaltenen Mitglieder durchaus eine Bedrohung darstellte.

Das Hexenwissen ging von natürlichen Rhythmen aus und nahm deren lustvolles Ausleben als Grundvoraussetzung für Gesundheit an. Die Vertreter der gerade aufkommenden medizinischen Wissenschaft widersprachen diesem Bild. Sie hatten in den Kellern der Inquisition ihre eigene Spaltung anhand der Sezierung der Gefolterten nachvollzogen und machten nun Fehlfunktionen einzelner Organe für Krankheit verantwortlich. An die Stelle der Betrachtung des lebendigen Ganzen trat die Reduzierung von Krankheiten auf Symptome und Organe, nicht lange danach auf die Einwirkung von Mikroorganismen. Das Wissen der Hexen wurde mit ihrer massenhaften Hinrichtung physisch vernichtet, nur wenige, einflußlose Überlieferungen blieben erhalten.

Auf diesem blutigen Fundament baute die Medizin ihre eigene Wirklichkeit: Der Lebensführung des Kranken wurde nur noch moralischer Wert beigemessen ("Geschlechtskrankheiten"), seine krankmachende Entfremdung, seine Ernährungsweise, seine physische Verausgabung als Untertan standen nicht mehr zur Diskussion.
Als am Ausgang des 15. Jahrhunderts in Italien Tausende an Ausschlägen, fieberhaftem Durchfall und Blutarmut erkrankten, gab es vor allem die moralische Wertung, all das sei Folge von Wollust, die religiöse, die es als Gottes Strafe für Sünden betrachtete, und die reduktionistisch wissenschaftliche, die davon ausging, daß die Geschlechtsorgane aufgrund ihrer lustvollen Benutzung allergisch reagierten. Man bezeichnete all diese Krankheiten in einer Geschichte als Syphilis, erst Jahrzehnte später wurde die bis dahin übliche Therapie des Auspeitschens und öffentlichen Lynchens der kranken Sünder von Paracelsus durch die Gabe von Quecksilber ersetzt. Diese wissenschaftliche Kur verursachte Nervenschäden und Rückbildungen der Kieferknochen, die aber auf die Krankheit und damit auf die Wollust zurückgeführt wurden.

Daß es genügend pathogene Einflüsse im Leben der damaligen Menschen gab und die Quecksilber-Therapie einer der giftigsten davon war, wurde ausgeblendet.

Von der Erfassung der krankmachenden Entfremdung befreite sich die Medizin endgültig mit der Entdeckung der Infektion durch Mikroben. Durch eine simple Verwechslung von Muster und Ursache von Krankheiten und die hinzukommende blinde Gläubigkeit in die Beweiskraft der Statistik wurden in den folgenden Jahrhunderten Angriffe von Bakterien und Viren als der weitaus wichtigere Faktor für Krankheitsausbrüche angesehen als die allgemeine Verfassung des Organismus und seiner Immunabwehr. Der Beweis war erbracht worden, daß man Krankheiten bekommt und nicht entwickelt, daß dementsprechend Epidemien nicht ähnlich schlechten Lebensumständen sondern dem erhöhten Infektionsrisiko aufgrund der simplen Nähe der Menschen zuzuschreiben sind.

Im 19. Jahrhundert waren diese wissenschaftlichen Erkenntnisse Allgemeingut geworden, so daß sich die Ansteckungstheorie und die Ansteckungsangst, aus der sie ursprünglich hervorgegangen war, auf sozialer Ebene die Bälle zuspielen konnten. Im modernen rassistischen Nationalismus spielte die "Blutschande", also die Vermischung der "Rassen" durch Geschlechtsverkehr, eine exponierte Rolle, die Angst der weißen gepanzerten Europäer vor dem lustvollen Kontakt mit Menschen anderer Herkunft, die möglicherweise noch sehr lebendig waren, war enorm. Andere Nationen wurden von anderen "Rassen" bewohnt, von "Untermenschen, die die Reinheit des eigenen Blutes verwässern" wollten.

In der "Massenpsychologie des Faschismus" identifiziert Reich in seiner damaligen marxistisch-psychoanalytischen Terminologie Rassismus mit der "Idee des Geschlechtsverkehrs mit Angehörigen der unterdrückten Klasse". Es ist in diesem Zusammenhang sehr bedeutsam, welche Rolle die Syphilis in der faschistischen Propaganda sowohl Italiens als auch Deutschlands spielte, ebenso welch angstvoll sexuelle Bedeutung das Label Jude in der Nazizeit bekam: die antisemitische Hetzschrift "Der Stürmer" bietet davon reichliche Zeugnisse.

"Are you afraid of a mix of black and white?

Living in a land where the law says: mixing of race makes the blood impure"

(Public Enemy, Fear of a black planet)


Der durch die Erziehung in der gespaltenen Gesellschaft ohnehin von sich und der Umwelt abgegrenzte Mensch wurde von der Infektionstheorie und dem Rassismus noch weiter in sich zurückgeworfen. Jeder andere konnte ein Ansteckungsherd sein, die erzieherische Prägung schien sogar zu suggerieren, daß es einen Zusammenhang gab zwischen der Aufregung und Lust des Kontakts mit anderen einerseits und der Gefährlichkeit und dem Infektionsrisiko andererseits. Der Reiz des Exotischen nahm gleichzeitig zu, die Phantasien über rassenübergreifenden Sex, die viele zur See trieben, entluden sich später im Bumsbomber-Tourismus der Gegenwart.

Den bisher letzten großen Schlag führte der medizinisch-moralische Komplex anfang der Achtziger. Als bei einer stark Medikamente und Rauschmittel mißbrauchenden Risikogruppe verstärkt Immunschwächeerscheinungen auftraten, griff man, ohne einen Blick auf die klar pathogene Lebensführung zu werfen, zu den Waffen der Virusforschung und stöberte ein RNS-Virus auf, von dem man fast nichts wußte, außer selbstverständlich, daß es tödlich wirkte und für die 29 Immunschwächekrankheiten, die man zu AIDS zusammengefaßt hatte, allesamt verantwortlich war.

Alle Merkmale von AIDS waren bereits festgelegt, bevor die Forschungen begonnen hatten: ein Virus als Ursache, der sexuelle Übertragungsweg, die Notwendigkeit harter Medikation. Die AIDS-Theorie wurde in eine Zeit geboren, in der zum ersten Mal seit Jahrhunderten Sex wieder als gesund und gesundheitsfördernd angesehen wurde, in dem das lustvolle Wohlbefinden ebenfalls wieder als gesundheitsrelevant betrachtet wurde, eine Zeit, in der gleichermaßen die Skepsis gegenüber der "Schulmedizin" zu wachsen begann.

Die schwimmenden Pfründe der Pharmaindustrie mögen als oberflächliche Erklärung ihre Bedeutung haben, der drohende Einflußverlust der Ansteckungspropaganda von Kirche, Staat und Wissenschaft bereitete dennoch den Boden.

Der gegenwärtige Stand ist durchaus ernüchternd. Auf der einen Seite Millionen von vermuteten Infektionen mit einem zweifelhaft pathogenen Virus, darauffolgend, wenn möglich, die Behandlung mit AZT, Protease-Hemmern und anderen immunsuppressiven und teuren Substanzen. Auf der anderen Seite eine von Medikamentenmißbrauch, chemischer, elektromagnetischer und radioaktiver Umweltverschmutzung und Mangel- und Fehlernährung verursachte Immunschwächeseuche, der mit noch mehr Technik und Medikamenten nicht beizukommen ist.
 

***

 

Weder hatte ich gehofft, so viel Material zu finden, noch war mir klar gewesen, daß ich die Zeit für die Ausarbeitung einfach haben würde. Es mußte getan werden und die Rahmenbedingungen mußten stimmen. Ich hatte gar nicht bitten müssen, damit sie mir alle großzügig Hilfe zusagten. Mark zum Beispiel hatte ich nur gesagt, daß ich zu diesem Zettel Nachforschungen betreiben würde und er hatte genickt und gesagt, daß ich dann wohl für eine Weile Geld bräuchte.

Er ist Dopedealer und es lief gerade gut, okay, aber von der Selbstverständlichkeit war ich überrascht. Ich nutzte meine Zeit, am Anfang wirkte mein Text auf mich etwas trocken, aber letztlich genauso bemüht, nicht wie ein Prophet zu klingen, der Ewige Wahrheiten verkündet.

Yeah, als ich das erste Kapitel vollendet hatte, ging ich mit Anja ins Kino. Es lief "Schwarze Katze Weißer Kater" von Kusturica, wir kamen hinterher rausgehüpft und zogen in eine Kneipe zum Begießen. Sie hatte außerdem drei Themenvorgaben für eine Präsentation mitgebracht und wollte, daß ich ihr bei der Auswahl helfe. Wir setzten uns auf ein Sofa im hinteren Zimmer und alberten die Themen durch. Wir favorisierten das "Institut für De-Normung", sozusagen das fiktive Gegenstück zu DIN. Experimentell sollte versucht werden, die Zeit als Norm aufzuheben. Wir kritzelten ein paar Entwürfe für Schilder und Tafeln auf die Servietten und lachten sehr viel.

In meine waghalsige Beweisführung, daß die Raumzeit ohnehin völlig gekrümmt sei, dauernd Stunden verschwinden und auftauchen, was besonders dumm ist, wenn es unmittelbar nacheinander passiert, weil es einem dann keiner glaubt, mischte sich plötzlich ein vielleicht vierzigjähriger, sehr pennerartig wirkender Mann ein, der sich unvermittelt neben unseren Tisch gestellt hatte: "Die Physik... ja... da hastun Ei... und Newton sagt... hier... so... warum steht das? warum steht das? gut... un in der Zeit also Französische Große Revolution sagt Rosseau also Rosseau... wißt ihr die Revolution er sagt: es gibt wissenschaftliche Beweise für die Rechte des Mannes und der Frau... und der Frau ja der Frau ja, und ihr beide, das ist schön zu sehen, ihr seid ja jung" - so ungefähr. Er fuchtelte dazu mit den Händen herum, um seine Gedanken zu illustrieren und deutete abwechselnd auf Anja und auf mich, zum Schluß auf Anja, während er mich ansah.

Es entstand eine Pause. Ich fragte: "Und?", woraufhin er sich einen Stuhl heranholte und sich zu uns setzte. Er fing wieder an, auf uns einzureden und haute uns die Antike, die Sowjetunion, die Marines und vor allem immer wieder "Felder" um die Ohren, bestellte Bier und verschenkte Zigaretten. Als wir feststellten, daß wir kein Feuer hatten, fragte er eine noch entrücktere Gestalt am Nachbartisch, die daraufhin begann, in kurzen Abständen zu brummen, womit sie für den restlichen Abend nicht mehr aufhörte.

Im vorderen Zimmer der Kneipe wurde hysterisch gelacht.

Der seltsame Mann schien sich zunächst verausgabt zu haben, wollte aber nun ein Wort von uns. Ich glaube, mir fiel naheliegenderweise Zeit ein und er sagte daraufhin einen Vierzeiler auf, in dem das Wort nicht vorkam.

Das Lachen im vorderen Zimmer glitt immer weiter ins Wahnsinnige ab, es mischten sich englische Gesprächsfetzen in die Geräuschkulisse.

"Deine Hand", sagte der Mann zu Anja. Sie kam sich äußerst veralbert vor und legte trotzdem ihre Hand auf den Tisch. Er drehte Anjas Hand um, patschte seine Hand darauf und fing nun an, die Handflächen aneinander zu reiben, wurde dabei immer schneller. Nach einer halben Minute hielt er abrupt inne und nahm seine Hand ganz langsam von Anjas weg. Als die Handflächen vielleicht einen Zentimeter voneinander entfernt waren, schaute er sie erwartungsfroh an: "Na? -  Na? -  Na?" Anja war sich offensichtlich nicht schlüssig, was er erwartete und lächelte sicherheitshalber. Dann sah sie zu mir und meinte leise: "Das fühlt sich schon irgendwie komisch an."

In der Tür zwischen den beiden Zimmern sah ich ein Gesicht wie meins von der Seite, englische Wörter waren zu erahnen.

Er wirkte unzufrieden, wohl, weil Anja nicht aus dem Häuschen geraten war, also legte er ihre Hand sanft ab und nahm meine, selbe Prozedur, rubbeln, innehalten, theatralisch schauen und langsam lösen.

Seine Hand war ein Stückchen von meiner entfernt.

Es fühlte sich schon irgendwie komisch an.

Es fühlte sich an, als wäre noch etwas dazwischen. Und dieses Etwas fühlte sich an wie ein bißchen Hand, oder überhaupt wie ein bißchen Haut.

Ich war ja nicht doof, ich wußte, wie Projektorfolien aneinanderhaften bleiben und Pullover beim Ausziehen knisterten, aber das war mehr.

Er zog seine Hand wieder zurück und nahm einen großen Schluck Bier. Anjas Gesicht war ein Fragezeichen und der Mann war sichtbar erfreut, daß wir ins Grübeln gekommen waren. Er verfiel in ein melodisches Lamentieren, dem nicht nur wie vorher Syntax und inhaltlicher Aufbau abgingen, sondern auch Verwandtschaft mit irgendeiner Sprache.

Das Einzige, was ich verstehen konnte, war "Orgon". Ich war mir nicht ganz sicher, vor allem weil ich mich jetzt tagelang damit beschäftigt hatte: Orgon war der Name, den Reich seinem Konzept von Lebensenergie, vom lebendigen Medium gegeben hatte. Das hatte damals weniger mit Mythologie oder einem Markennamen zu tun gehabt, als mit der Ableitung aus den beiden Forschungsquellen Orgasmus und organisch. Das lebendige Medium kennzeichnete das organische Leben und entlud sich in lustvoller körperlicher Betätigung, behauptete Reich.

Und der Mann sagte es immer wieder. Eingebettet in ein sinn- und zusammenhangloses Mantra, das er aber mit dem gleichen Gesichtsaudruck wie die ganze Zeit zuvor absonderte.

Das Gesicht zwischen den Türrahmen war meins, soviel war jetzt sicher. Und genauso wie das sich mittlerweile überschlagende hysterische Lachen und das Brummen vom Nachbartisch war es unmöglich Produkt der zwei Gin Tonics und des spendierten Biers.

Weder Anja noch ich hatten letztlich wirklich etwas gesagt, seit der Mann aufgetaucht war, abgesehen von kurzen Verständnisversuchen wie "Meinst du, daß... Ah-so."

So übergangslos er mit seinem Mantra begonnen hatte, fiel er jetzt wieder in seinen normalen Ton zurück: "Bei de Amis... ich war ja Marine.. also noch früher..  bin ich zur Fremdenlegion, de Marines... meine Frau hier zurückjelassen... bei de Amis Geld jemacht jelernt... und du höre hier... Kampfausbildung wa NATO... komme zurück war noch Osten... meine Frau mit meinem Bruder... glaubste nich... ich hatte Geld... jeschickt die janze Zeit, viel Geld und denn Schiß wegen Zurückkommen... und denn mit meim Bruder... sie ist dann an Krebs jestorm und er geht am Stock" Ich spürte seine Hand immer noch und zog zumindest in Betracht, daß sie wegen ihm mit Krankheit und Tod geschlagen wurden.

Er schickte sich an zu gehen, wünschte uns auf seine Art noch einen schönen Abend und sagte im Aufstehen: "Siehste nicht die Pyramide in deinem eigenen?"

Ich zuckte zusammen und wunderte mich nicht mehr, als mein Gesicht, mich grüßend, auch ging und nicht viel später, als Anja und ich aufbrachen, mich ein lederbekleideter Motorradtyp von furchteinflößendem Äußeren auf die Stirn küßte.

 

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