"Eins auf's Auge.
VORGESCHICHTE
Oh Mann, jemand hatte graue Farbe über die in dieser Unterführung
dahinstaksenden Gestalten geschüttet! ‚Tut doch was!' dachte ich.
Sie waren nicht nur alle farblos geworden davon, sie schienen auch am Fußboden
festzukleben - und ich mußte doch zwischen ihnen durch! So alt wirkten
sie alle gar nicht, aber sie wollten offenbar einfach nirgendwohin, sie
hätten sicher gerne einfach stehenbleiben wollen, um ein Schwätzchen
zu halten - im Gegensatz zu mir: ich wollte nicht nur aus diesem halbdunklen,
mich mit Brötchen, Fischen und Reiseprospekten vertreibenden Tunnel
verschwinden, ich wollte endlich nach Hause.
Oh Mann, mein Arm drückte noch von der Plasmaspende am Mittag,
und so angenehm es gewesen war, mich danach bei der Englischnachhilfe mit
völlig beknackten Beispielen und verstellter Stimme austoben zu können
- jetzt sehnte ich mich nach Civilization II, heißem Wasser in der
Tasse und aus der Brause, nach Masturbation und Schokolade.
Na hoppla, der Aktionskünstler mit dem grauen Farbtopf war zwar
nicht mehr zu sehen, aber ganz sicher betrachtete er das Resultat aus einer
Imbißbude heraus. Ein sich mühsam fortbewegendes Pärchen
zum Beispiel - Pärchen? Die Farbe war wohl bis ins Gehirn eingesickert,
und es verlangte mich zu fragen: "Schöne Frau, langweilt sie die Flasche
nicht?" Und gleich danach: "Flasche, langweilt dich die schöne Tante
eigentlich?"
Ich erreichte die Treppe ins Licht, hinauf zum Pir-naischen Platz und
- oh Mann, der Kerl mit dem Grau war vor mir dagewesen und hatte jedem
hier eine Ladung ins Gesicht geschüttet.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Bahn kam. Ich hatte ein Überlebenspack
Zigaretten dabei und wußte schon genau, wie ich den Babyloniern später
gleich ein paar Städte abnehmen konnte, ich mußte nur rechtzeitig
Metallurgie entdecken, dann wäre ihre Große Mauer unwirksam
und ich würde ihnen mit Kanonen auf den Pelz rücken.
Besser war noch die Idee, mit dem Editor das Szenario fertigzubasteln,
in dem sämtliche Fortschritte nur auf den Gebieten des Drogenanbaus,
Drogenhandels, der Drogenverarbeitung und des immer bewußteren Drogenkonsums
erzielt werden konnten und ich die anderen Zivilisationen in der Pfeife
rauchen konnte. Aber irgendwie war der Editor zu unflexibel dafür,
es lief immer auf Krieg hinaus.
Wer erzählte denn dieses Zeug die ganze Zeit? Ich sah mich um
und entdeckte einen völlig verwitterten Alten, dessen Schmunzeln fast
auseinanderzufallen drohte und der, die Hände hinter dem Rüc-ken,
um das Wartehäuschen herumschlurfte, dabei in gewissen Abständen
mit seltsamer Stimme
Mir gefiel das Spiel. Der Alte und seine zerbombte Zahnleiste wanderten
aus meinem Blickfeld, dafür interessierten mich die Fest- und Zugeklebten,
die immer ruckartig in Bewegung gerieten, wenn sie die verdrängten
Wörter hörten. "Der räuberische Imperialismus - hähähä"
Sie hofften alle inbändig auf ihre Bahn, während ich mich
allmählich zu entspannen begann und belustigt rauchte. Ihr Unbewußtes
lief dort herum, außerhalb der Nacht und des Betts und des Traums,
und es posaunte all das aus, was man doch nicht mehr sagen konnte. Wie
sie ihre Halstü-cher zurechtzupften! Wie sie wegsahen oder hinsa-hen
oder nach unten schauten oder in die Wolken! Ein Tanz der Angeklebten,
choreographiert von ei-nem zahnlosen Irren, der nur noch das sagte, was
sie nicht in ihr Neusprech übernommen hatten. "Partei" - zuck, "Genosse"
- hüstel, "Antifaschisten in vorderster Front" - hoch die Augenbrauen!
Und alles für mich.
Weil sie es mal geglaubt hatten, weil es mal ihre Gebete gewesen waren,
weil sie dann gar nicht ge-wußt hatten, wieviel davon falsch gewesen
war und warum und wie sie es hätten loswerden können und weil
jeder etwas anderes behauptet hatte und jetzt immer noch keine VERBINDLICHE
REGELUNG von der Partei herausgegeben worden war, wie das alles zu behandeln
war.
Aber die Vorstellung war vorbei, als eine umgeleitete 4 sie alle zum
Postplatz mitnahm, und sie wollten sicher alle lieber dort auf weiteren
Anschluß warten und den bösen Geist hier zurücklassen,
soviel war sicher.
Ich blieb noch sitzen, und der Alte kam zu mir herübergewackelt,
präsentierte mit einem lieben Lächeln das stomatologisch sehr
interessante In-nere seines Mundes und kramte in einem alten Einkaufsbeutel
herum.
Schließlich hielt er mir einen kleinen Notizzettel hin, auf dem
eine Tabelle zu sehen war. Er wedelte kurz damit und ich sagte Danke und
nahm das Blatt. Ein Nicken und ein schnapsgeladenes Lachen und er ging
hinüber zu einer anderen Tanzgruppe.
Der kleine Zettel war kraklig beschriftet, oben stand bescheidenerweise
ALLES. Darunter war eine Ta-belle mit einem Kopf, drei Spalten und sieben
Zeilen. Ich schaute noch einmal hinüber zu dem Alten, aber der kümmerte
sich nicht mehr um mich, also besah ich mir die Sache genauer:
"Hä?" machte ich, glaube ich, und "ähm" und ähn-liche
intelligente Bemerkungen und sah auf, um den Alten prüfend ins Visier
zu nehmen. Aber der war lachend und quakend in der Unterführung ver-schwunden.
Ich versuchte dann, alle meine Vorhaben für den Abend umzusetzen,
aber es war wie immer zu früh und zu spät. Ich zelebrierte mir
einige Teller Sol-janka hinein und wurde müde. Beim Gedanken, am besten
erstmal einen Kaffee zu kochen, schlief ich ein.
Jina rief an und ich bekam es nicht mit, Ingo klin-gelte vergeblich,
ich träumte von klebriger Farbe (beängstigend, wessen Farbtopf?)
und Jina (schön, schwebend).
Ich ließ es klingeln, wer rief denn hier dauernd an, es war ja
schon 11, was 11 morgens? Quatsch, si-cher 11 abends, es würde schon
aufhören zu klin-geln, es war aber hell, es war sicher morgens, es
war 11? Ja, 11:54, großer Gott. Aufgestanden machte ich den Rechner
an, latschte in die Küche und füllte den Wasserkocher. Ich fing
ein Civilization-II-Spiel an, das Marsbesiedlungsszena-rio mit den futuristischen
Technologien, sieben ir-dische Nationen mit Kolonien auf dem Mars ver-treten
und meine die meiste. Waren ja gleich Nach-richten, Fernseher an, ging
die Uhr eigentlich vor oder nach? Wieso verhindert Schuld eigentlich Selbstbewußtsein?
Das Telefon. "Was machstn heute Abend?" - "Weiß ich noch nich." Nachrichten.
Die Uhr ging doch vor. Ob das Wasser nicht langsam kochte? Dazu hätte
ich es anstellen müssen. Okay. Das war doch Mark am Telefon, hätte
ich doch gleich mal fragen kön-nen, ob er mit ins Kino kommen wollte.
Am besten, ich holte erstmal Brötchen. Nach den Nachrichten. Warum
fingen die eigentlich nicht an? Wenn mich jemand einer Sache beschuldigt,
fang ich an, drü-ber nachzudenken, so reflexionstechnisch. Dann konnte
ich gleich noch nachsehen, ob die Post da war. Ach Mann, ehe ich noch rumsaß,
bis die Nachrichten kamen, konnte ich auch los. Die Post war noch nicht
da. Wieso waren das eigentlich auch 7 Zivilisationen auf dem Mars? Weil
6 Gegner die höchste Konkurrenzstufe bei Civilization II dar-stellten.
Nachts ist es meist dunkel, und hell wird es dann am Tag. Zwei doppelte
Brötchen, eine Mark und vier. Aber es war gar nicht so verkehrt, die
Be-schuldigung sorgt natürlich dafür, daß ich mir kein
eigenes Urteil bilden kann.
Was stand auf dem Zettel denn noch so drauf?
Und wo hatte der Alte das hergehabt? Die Post war am Ende der Straße,
nach 12, pee-mail. Das Telefon klingelte schon wieder, ich schloß
schnell die Tür auf, nahm ab und hörte nichts. Ach so, das Wasser
nochmal an-machen, bis es kochte, konnte ich ja noch ein, zwei Städte
auf dem Mars gründen. Sieben Zivilisatio-nen, allerdings ohne spezifische
Eigenschaften, es war, abgesehen von der jeweiligen Startposition auf der
Karte, ziemlich wurscht, wen man spielte. Sie-ben verschiedene Herangehensweisen.
In einigen Szenarios hatten sie das ja versucht einzubauen, bestimmte Völker
von vornherein mit charakteristi-schen Weltwundern ausgestattet, die ihnen
be-stimmte Startvorteile boten, oder eine nicht verän-derbare Regierungsform
festgelegt. Naja. Das Was-ser. Ich gab noch schnell die Verteidigungseinheit
in Auftrag und "Es ist 12.30 Hier ist Euro-News mit den Nachrichten. Diplomatischer
Druck auf Milose-vi? erhöht. NATO-Sprecher schließt militärisches
Eingreifen nicht mehr aus." In Zeitlupe kulminierte das Chaos. Ähnliche
mißglückte Sätze; ich hätte doch nochmal kommen sollen,
bevor ich alles auf Empfang gestellt hatte.
Irgendwann gelang es mir, Teebeutel in heißes Wasser zu hängen,
Brötchen zu belegen und den leeren Briefkasten zu öffnen, so
daß jetzt der Au-genblick gekommen war, in dem Clem anrufen konnte.
Ich sagte ihm, daß ich gehört hätte, es gäbe ein neues
Sid-Meier-Spiel, das an der Stelle an-fängt, wo Civilization aufzuhören
pflegte, bei der Besiedlung des Alpha Centauri. Wie umarmt man einen Telefonhörer?
- "Ich hab es." - Welche Bahn fuhr zu Clem? - "Und es gibt
ja auch eigentlich ei-nen Kopierschutz." - Wo waren meine Schuhe?
Unter Süchtigen gibt es keine echte Dankbarkeit, die Rede ist vom
Silberling, den das hochtourende Laufwerk wie einen Heroin-Schuß
aufkochte. Ge-fühle der Verbundenheit mit Clem konnten erst viel später
aufkommen, nach dem Stillen des akuten Hungers, dann gab es vielleicht
Zeit für die Freude über seine Hackerkünste, seine Verbindungen,
seine Informationsverliebtheit, dann wurde das Dealerverhältnis vielleicht
wieder zu einer Freundschaft.
Den Nachmittag, den Abend und die Nacht herrschte jedoch ein semibewußter
Zustand, der körperliche Bedürfnisse als Fundi-Fraktion auf die
billigen Plätze verbannte, um die Schußlinie zwischen den lechzenden
Nerven und dem Bildschirm freizuhalten. Bis die Augen flimmerten, bis die
Hand zuckte und wenigstens einmal der ganze Fortschrittsbaum bis zu den
entwickeltsten Technologien durchgespielt war.
Es war eine Offenbarung. Es gab fünf Arten zu ge-winnen, neben
dem bekannten Weg durch allge-meines Plattmachen der Konkurrenten auch
eine Art UNO-Sieg der friedlichen Koexistenz, einen alli-ierten Sieg, einen
wirtschaftlichen Sieg und die Transzendierung der Menschheit als solcher.
Während ich den Bildschirm zur Steuerung der In-nenpolitik (Alpha
Centauri-Sprech: Sozialtechnik) erforschte, schrieb ich dieses Gedicht
nicht:
Politik wird störend oft empfunden
Als ich die erste Meereskolonie gründete, rief ich Ewa nicht an,
um ihr meine Ratlosigkeit ihr gegenüber zu schildern, die ich mit
ihrer Ratlosigkeit zu verbünden gedachte.
Als ich in zähen Verhandlungen den ersten Alliierten gewann,
schmurgelte ich mir nichts lecker Gewürztes in der Pfanne zusammen.
Als ich bemerkte, daß die Allierten von der Gottesgläubigen-Fraktion
ihr Bündnis mit mir brachen, weil ich weiterhin Demokratie als politische
Sozialtechnik eingestellt hatte, las ich nicht nochmal in der MARX BROTHERS
RADIO SHOW: MRS. VANDERGRAFF: Also ich
werde nicht hierbleiben und mich beleidigen lassen. Ich gehe.
Als ich es geschafft hatte, zum ersten Mal aus den Wahlen zum Planetenkonzil
als Gouverneur hervor-zugehen und die Idee der UN-Charta auf Alpha Centauri
verstand, stellte ich nicht fest, daß No Control von Bad Religion
bereits das neunte Mal durchlief, so daß die Texte nur unbewußte
Spuren hinterlassen konnten, tief genug, damit ich die Songs bei nächster
Gelegenheit noch gründlicher mitsingen könnte (zum wahrscheinlichen
Mißbeha-gen der Anderen im Auto).
Ich sah gar nichts mehr auf dem Schirm, weil die Sonne blendete. Die
Sonne? Es war...
Ich wachte auf und stellte fest, daß ich aus zehn Zentimetern
Höhe auf die Tastatur gesabbert hatte.
Halbwach durchkramte ich mein Zimmer und fand die Tabelle des zahnlosen
Alten in meinem Ruck-sack unter einem Apfel. Aber essen konnte man ihn
nicht mehr, aber lesen konnte man ihn noch.
Aber irgendwie sah es nach einem ähnlichen Schema aus, zumindest
kurz nach dem Wachwerden. Es war gerade kurz vor 9:
Ich beschloß, diesen kleinen Zettel zu einem ganzen Haufen Zettel
auszuarbeiten, vielleicht erst einmal mit der obersten Zeile anzufangen,
um zu sehen, wie sinnvoll sich das anließ. Das sah nach ein paar
ausgefüllten Wochen aus.
Ich brauchte ein Modem. Ich brauchte eine Zeitung. Und ich mußte
meine Bibliotheksgebühren bezahlen.
Vielleicht sollte ich erst ein bißchen Alpha Centauri spielen,
das war ja nun auch irgendwie Nachforschung. Nein (so stark war ich im
Moment!), die Läden machten gerade auf! Höchstens eine Viertelstunde,
bis ich so ein GravSchiff bauen konnte, das die Vorzüge von Helikopter
und Flugzeug vereinte.
ENDE DER VORGESCHICHTE
Erst ganz zum Schluß war ich mir sicher, wem ich das Produkt widmen
würde. Ganz zum Schluß werdet ihr das verstehen: "Für Robert
Gallo, der auf einnehmende Weise und mit lebendigem Geist eine Theorie
vertritt, die ich für kurzsichtig und gefährlich halte."
Der Priester blickt auf die sieben Haufen, auf denen es
betriebsam wuselt und kracht. Niemand blickt zu ihm, obwohl er das größte
Geheimnis in der Hand hält: die Vereinigung, Religion.
DIE SIEBEN LEBENSLÜGEN DER ZIVILISATION
Thomas J. West sieht in der "Angst vor Ansteckung die Angst davor,
sich bei intensivem, lustvollem, natürlichem Austausch mit andersartigen,
vorzugsweise anderen sozialen Schichten oder Nationalitäten
angehörenden Menschen großer Lebendigkeit oder vermuteter Lebendigkeit,
ebenso bei Austausch mit Lebewesen und natürlichen Prozessen insgesamt,
ETWAS EINZUFANGEN." (Hervorhebung im Original)
Diesem Bild folgend läßt sich eine enorme Angst vor KONTAKT
mit der lebendigen Außenwelt konstatieren. Der Wissenschaftler, der
sich am eindringlichsten mit dem Problem des Lebendigen und der Entfremdung
davon auseinandergesetzt hat, ist zugleich einer der produktivsten dieses
Jahrhunderts, Wilhelm Reich (1897-1957). Er unternahm den Versuch, das
Medium, durch das Lebendiges miteinander verbunden ist, wissenschaftlich
zu fassen. Er hatte in seiner langjährigen Praxis als Psychoanalytiker
und bioenergetischer Therapeut eine prinzipielle Einschränkung des
lebendigen Ausdrucks bei seinen Patienten beobachtet und folgerte nun,
auf seinem Lebensenergiekonzept aufbauend, daß der Fluß des
lebendigen Mediums im Menschen gestört sei und der Mensch sich gegen
das Wirken dieses natürlichen Stroms in seinem Organismus "gepanzert"
habe, es also offensiv zu verhindern suche.
Für Reich war das lebendige Medium die formgebende und materiebildende
Kraft an der Wurzel zahlreicher Naturprozesse, und er postulierte im menschlichen
Wahrnehmungsapparat einen primären Sinn für dieses Medium, der
durch die Störung des Energieflusses ebenfalls stark beeinträchtigt
sei. Im natürlichen Ausdruck und der natürlichen Wahrnehmung
behindert, habe sich der Mensch "Krücken" geschaffen, die bestimmte
Funktionen des lebendigen Mediums simulieren können, aber eben den
KONTAKT nicht herstellen.
Kontaktmangel ist in Reichs Argumentation einer der zentralen Gründe
für die massenhafte Verbreitung von psychischen, psychosomatischen
und somatischen Erkrankungen, ebenso für eine Reihe von sozialen Entfremdungsproblemen.
Reich warf in einem seiner letzten Bücher, in dem er die Probleme
des Lebendigen philosophisch und religiös zu beschreiben versuchte,
die Frage nach dem Ursprung der Panzerung auf. Er sprach von einer
Falle, in der die Menschen sitzen, die sie sehr gut beschreiben können,
in der sie es sich ganz gut eingerichtet hätten; aus der sie aber
nicht auszubrechen vermögen, da sie vor der Welt außerhalb der
Falle Angst entwickelt haben, da sie selbst ein Teil der Falle sind und
letztlich in sich selbst gefangen sind.
Die Grundfrage jedoch bleibt: Warum und unter welchen Umständen
ist der Mensch überhaupt in die Falle getappt? Wie konnte es dazu
kommen, daß die in vielerlei Hinsicht entwickeltsten Lebewesen auf
diesem Planeten ihren primären Sinn und ihre primäre Ausdrucksfähigkeit
einbüßten?
Ohne auf Reichs Fragestellung einzugehen, sind verschiedene Antworten
gegeben worden:
Die Marxisten schrieben die Panzerungsprobleme der Warenwirtschaft,
dem Privateigentum und der Klassenspaltung zu, lehnten also die Blockierung
des Lebendigen als Ursache ab.
Ein gut fundierter, moderner Ansatz, der auf Reich ausdrücklich
Bezug nimmt, ist die SAHARASIA-These von James DeMeo. Nach der computergestützten
Auswertung einer Fülle von historisch-ethnologischen und historisch-klimatischen
Studien stieß DeMeo auf zwei riesige Umwälzungsprozesse auf
diesem Planeten, die beginnend vor etwa 6000 Jahren nahezu synchron verliefen.
Zum einen ist für diesen Zeitpunkt und die Zeit seither die Entstehung
und Ausbreitung der großen Trockengebiete der Erde nachweisbar, zum
anderen spielten sich in unzähligen Kulturen in den betroffenen Gebieten
immer gleiche Szenarien des Triumphs einer eher kriegerisch-männlich-hierarchischen
Ordnung über eine ursprüngliche eher friedlich-weiblich-demokratische
Struktur ab.
Diesen Umbruch führt DeMeo auf zwei wesentliche Faktoren zurück.
Das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Desertifikation trieb Bewohner
vormaliger fruchtbarer Feuchtgebiete (betroffen waren zu Beginn vor allem
die heutige Sahara, Arabien und Zentralasien, daher das Akronym Saharasia)
in die Flucht, ganze Kulturen gingen auf die Suche nach Lebensraum, getrieben
von nacktem Hunger. Die traumatische Wirkung von Unterernährung ist
evident: organische Schädigungen, Mißbildungen. Ein zweiter
Faktor gab jedoch Ausschlag für die weitere Entwicklung. Auf den langen
Wanderungen konnte sich nicht mehr angemessen um die Kinder gekümmert
werden, sie wurden auf den Rücken geschnallt und ruhiggestellt. Da
es unzählige Völker gab, die nicht mehr fündig wurden, wurde
das rastlose Umherziehen Normalzustand, ebenso die Vernachlässigung
und Beschränkung der Kinder: der ganze Körper eingewickelt, in
ein enges Tragegestell gezwängt, zur Regungslosigkeit verdammt.
Diese Kindergeneration wurde so systematisch dem Lebendigen entfremdet,
sie wurde unfähig zu lebendigem Ausdruck, sie prägte die natürliche
Umwelt als feindlich ein, sie konnte auf andere Menschen nicht mehr als
Quelle von Energie vertrauen. Sie strebte nach Ersatz für den verlorenen
Kontakt und gab die Vernachlässigung an die nächste Generation
weiter, wodurch die Pädagogik der weiteren Geschichte nachhaltig geprägt
wurde.
Obwohl es, wie erwähnt, weiter ein Rätsel bleibt, warum es
diese Fluchtbewegung weg von der Natur eigentlich gibt, ist es zweckmäßig,
die weitere Dynamik anhand von DeMeos Modell zu betrachten.
Während am Beginn des gesamten Prozesses einige Kulturen andere
überfielen, um den eigenen Landverlust auszugleichen, trat nun ein
Hunger nach Eroberung auf den Plan. Die Wüstenvölker schufen
sich kriegerische Hierarchien, die plünderten und raubten, ohne sich
selbst irgendwo wieder anzusiedeln. Sie begannen, sich schneller zu verbreiten
als die Trockengebiete selbst. Viele Kulturen wurden in diesen Kriegen
ausgelöscht, andere unterworfen (Ägypten) oder nachhaltig verändert.
Hervorstechende Gemeinsamkeit ist die Spaltung der unterworfenen Kulturen:
die Krieger der Wüstenvölker bildeten eine herrschende Kaste,
denen die ursprünglichen Gemeinschaften in mehreren Abstufungen untergeordnet
waren. Die innere Spaltung der traumatisierten Krieger wurde auf die sozialen
Systeme der eroberten Kulturen ausgedehnt. Die Gesellschaften wurden in
Teile zerlegt, die sich aufgrund ihrer verschiedenen Position in der Hackordnung
feindlich gegenüberstanden.
Der herrschenden Kriegerkaste ging es nicht um Entwicklung der Kultur
oder um nachhaltiges Wirtschaften, sondern lediglich um den Machterhalt,
Kompensation für die eigene Lebensentfremdung.
Weitere Eroberungszüge trugen die gespaltene Ordnung nach Europa
und verbreiteten sie schließlich weltweit. Die einmal veränderten
europäischen Kulturen agierten aufgrund ihrer technischen Entwicklung
schließlich als Motor, der kolonisierend die soziale Spaltung auf
allen Kontinenten installierte.
Die Entdeckungen der frühen Saharasia-Periode wurden in den Dienst
der Herrschaft gestellt: Geld, Privateigentum, rituelle Spiritualität,
analytische Logik.
Kennzeichen für die Abwendung von natürlichen Rhythmen und
die fatalen Folgen sind Verödung weiter Landstriche durch landwirtschaftlichen
Raubbau, die Ausbreitung von Seuchen in den vermassten Städten und
die sich immer wieder in Bürgerkriegen und Feldzügen entladende
Naturentfremdung.
Es entstand so das Weltbild, das für die Zivilisation bis heute
prägend geblieben ist. Im Zentrum das Ich, das von seinen lebendigen
Körperfunktionen abgetrennt ist und sie zu beherrschen sucht, in der
Außenwelt mit wachsender Entfernung immer gefährlichere andere
Menschen, die anderen Klassen angehören, andere Lebensweisen haben,
die an das eigene Lebendige erinnern; noch weiter entfernt andere Völker,
in späterer Terminologie "Rassen", per se minderwertig und gefährlich.
Alles umgebend und einfassend die allgegenwärtige Natur als ständige
Bedrohung, als ständige Erinnerung an das feindliche Lebendige.
Im frühen Mittelalter wirkten mit dem Christentum, das die Natur
und ihre Äußerungen als "Fleisch" verdammte, und der beginnenden
reduktionistischen Wissenschaft, der der ursprüngliche Sinn für
Naturzusammenhänge "unexakt" erschien, zwei Kräfte zusammen,
die die noch erhaltenen lebensbejahenden Strukturen auszumerzen begannen.
Zielscheibe waren die europäischen Hexen, die das intuitive Wissen
um Naturprozesse (vor allem Schwangerschaft und Sexualität, Gesundheit
und spirituelle Verbindung) bewahrt hatten und ein Bild verbreiteten, das
für die gespaltene Gesellschaft und ihre gespaltenen Mitglieder durchaus
eine Bedrohung darstellte.
Das Hexenwissen ging von natürlichen Rhythmen aus und nahm deren
lustvolles Ausleben als Grundvoraussetzung für Gesundheit an. Die
Vertreter der gerade aufkommenden medizinischen Wissenschaft widersprachen
diesem Bild. Sie hatten in den Kellern der Inquisition ihre eigene Spaltung
anhand der Sezierung der Gefolterten nachvollzogen und machten nun Fehlfunktionen
einzelner Organe für Krankheit verantwortlich. An die Stelle der Betrachtung
des lebendigen Ganzen trat die Reduzierung von Krankheiten auf Symptome
und Organe, nicht lange danach auf die Einwirkung von Mikroorganismen.
Das Wissen der Hexen wurde mit ihrer massenhaften Hinrichtung physisch
vernichtet, nur wenige, einflußlose Überlieferungen blieben
erhalten.
Auf diesem blutigen Fundament baute die Medizin ihre eigene Wirklichkeit:
Der Lebensführung des Kranken wurde nur noch moralischer Wert beigemessen
("Geschlechtskrankheiten"), seine krankmachende Entfremdung, seine Ernährungsweise,
seine physische Verausgabung als Untertan standen nicht mehr zur Diskussion.
Daß es genügend pathogene Einflüsse im Leben der damaligen
Menschen gab und die Quecksilber-Therapie einer der giftigsten davon war,
wurde ausgeblendet.
Von der Erfassung der krankmachenden Entfremdung befreite sich die
Medizin endgültig mit der Entdeckung der Infektion durch Mikroben.
Durch eine simple Verwechslung von Muster und Ursache von Krankheiten und
die hinzukommende blinde Gläubigkeit in die Beweiskraft der Statistik
wurden in den folgenden Jahrhunderten Angriffe von Bakterien und Viren
als der weitaus wichtigere Faktor für Krankheitsausbrüche angesehen
als die allgemeine Verfassung des Organismus und seiner Immunabwehr. Der
Beweis war erbracht worden, daß man Krankheiten bekommt und nicht
entwickelt, daß dementsprechend Epidemien nicht ähnlich schlechten
Lebensumständen sondern dem erhöhten Infektionsrisiko aufgrund
der simplen Nähe der Menschen zuzuschreiben sind.
Im 19. Jahrhundert waren diese wissenschaftlichen Erkenntnisse Allgemeingut
geworden, so daß sich die Ansteckungstheorie und die Ansteckungsangst,
aus der sie ursprünglich hervorgegangen war, auf sozialer Ebene die
Bälle zuspielen konnten. Im modernen rassistischen Nationalismus spielte
die "Blutschande", also die Vermischung der "Rassen" durch Geschlechtsverkehr,
eine exponierte Rolle, die Angst der weißen gepanzerten Europäer
vor dem lustvollen Kontakt mit Menschen anderer Herkunft, die möglicherweise
noch sehr lebendig waren, war enorm. Andere Nationen wurden von anderen
"Rassen" bewohnt, von "Untermenschen, die die Reinheit des eigenen Blutes
verwässern" wollten.
In der "Massenpsychologie des Faschismus" identifiziert Reich in seiner
damaligen marxistisch-psychoanalytischen Terminologie Rassismus mit der
"Idee des Geschlechtsverkehrs mit Angehörigen der unterdrückten
Klasse". Es ist in diesem Zusammenhang sehr bedeutsam, welche Rolle die
Syphilis in der faschistischen Propaganda sowohl Italiens als auch Deutschlands
spielte, ebenso welch angstvoll sexuelle Bedeutung das Label Jude in der
Nazizeit bekam: die antisemitische Hetzschrift "Der Stürmer" bietet
davon reichliche Zeugnisse. "Are
you afraid of a mix of black and white? Living
in a land where the law says: mixing of race makes the blood impure" (Public
Enemy, Fear of a black planet)
Den bisher letzten großen Schlag führte der medizinisch-moralische
Komplex anfang der Achtziger. Als bei einer stark Medikamente und Rauschmittel
mißbrauchenden Risikogruppe verstärkt Immunschwächeerscheinungen
auftraten, griff man, ohne einen Blick auf die klar pathogene Lebensführung
zu werfen, zu den Waffen der Virusforschung und stöberte ein RNS-Virus
auf, von dem man fast nichts wußte, außer selbstverständlich,
daß es tödlich wirkte und für die 29 Immunschwächekrankheiten,
die man zu AIDS zusammengefaßt hatte, allesamt verantwortlich war.
Alle Merkmale von AIDS waren bereits festgelegt, bevor die Forschungen
begonnen hatten: ein Virus als Ursache, der sexuelle Übertragungsweg,
die Notwendigkeit harter Medikation. Die AIDS-Theorie wurde in eine Zeit
geboren, in der zum ersten Mal seit Jahrhunderten Sex wieder als gesund
und gesundheitsfördernd angesehen wurde, in dem das lustvolle Wohlbefinden
ebenfalls wieder als gesundheitsrelevant betrachtet wurde, eine Zeit, in
der gleichermaßen die Skepsis gegenüber der "Schulmedizin" zu
wachsen begann.
Die schwimmenden Pfründe der Pharmaindustrie mögen als oberflächliche
Erklärung ihre Bedeutung haben, der drohende Einflußverlust
der Ansteckungspropaganda von Kirche, Staat und Wissenschaft bereitete
dennoch den Boden.
Der gegenwärtige Stand ist durchaus ernüchternd. Auf der
einen Seite Millionen von vermuteten Infektionen mit einem zweifelhaft
pathogenen Virus, darauffolgend, wenn möglich, die Behandlung mit
AZT, Protease-Hemmern und anderen immunsuppressiven und teuren Substanzen.
Auf der anderen Seite eine von Medikamentenmißbrauch, chemischer,
elektromagnetischer und radioaktiver Umweltverschmutzung und Mangel- und
Fehlernährung verursachte Immunschwächeseuche, der mit noch mehr
Technik
und Medikamenten nicht beizukommen ist.
*** Er ist Dopedealer und es lief gerade gut, okay, aber von der Selbstverständlichkeit
war ich überrascht. Ich nutzte meine Zeit, am Anfang wirkte mein Text
auf mich etwas trocken, aber letztlich genauso bemüht, nicht wie ein
Prophet zu klingen, der Ewige Wahrheiten verkündet.
Yeah, als ich das erste Kapitel vollendet hatte, ging ich mit Anja
ins Kino. Es lief "Schwarze Katze Weißer Kater" von Kusturica, wir
kamen hinterher rausgehüpft und zogen in eine Kneipe zum Begießen.
Sie hatte außerdem drei Themenvorgaben für eine Präsentation
mitgebracht und wollte, daß ich ihr bei der Auswahl helfe. Wir setzten
uns auf ein Sofa im hinteren Zimmer und alberten die Themen durch. Wir
favorisierten das "Institut für De-Normung", sozusagen das fiktive
Gegenstück zu DIN. Experimentell sollte versucht werden, die Zeit
als Norm aufzuheben. Wir kritzelten ein paar Entwürfe für Schilder
und Tafeln auf die Servietten und lachten sehr viel.
In meine waghalsige Beweisführung, daß die Raumzeit ohnehin
völlig gekrümmt sei, dauernd Stunden verschwinden und auftauchen,
was besonders dumm ist, wenn es unmittelbar nacheinander passiert, weil
es einem dann keiner glaubt, mischte sich plötzlich ein vielleicht
vierzigjähriger, sehr pennerartig wirkender Mann ein, der sich unvermittelt
neben unseren Tisch gestellt hatte: "Die Physik... ja... da hastun Ei...
und Newton sagt... hier... so... warum steht das? warum steht das? gut...
un in der Zeit also Französische Große Revolution sagt Rosseau
also Rosseau... wißt ihr die Revolution er sagt: es gibt wissenschaftliche
Beweise für die Rechte des Mannes und der Frau... und der Frau ja
der Frau ja, und ihr beide, das ist schön zu sehen, ihr seid ja jung"
- so ungefähr. Er fuchtelte dazu mit den Händen herum, um seine
Gedanken zu illustrieren und deutete abwechselnd auf Anja und auf mich,
zum Schluß auf Anja, während er mich ansah.
Es entstand eine Pause. Ich fragte: "Und?", woraufhin er sich einen
Stuhl heranholte und sich zu uns setzte. Er fing wieder an, auf uns einzureden
und haute uns die Antike, die Sowjetunion, die Marines und vor allem immer
wieder "Felder" um die Ohren, bestellte Bier und verschenkte Zigaretten.
Als wir feststellten, daß wir kein Feuer hatten, fragte er eine noch
entrücktere Gestalt am Nachbartisch, die daraufhin begann, in kurzen
Abständen zu brummen, womit sie für den restlichen Abend nicht
mehr aufhörte.
Im vorderen Zimmer der Kneipe wurde hysterisch gelacht.
Der seltsame Mann schien sich zunächst verausgabt zu haben, wollte
aber nun ein Wort von uns. Ich glaube, mir fiel naheliegenderweise Zeit
ein und er sagte daraufhin einen Vierzeiler auf, in dem das Wort nicht
vorkam.
Das Lachen im vorderen Zimmer glitt immer weiter ins Wahnsinnige ab,
es mischten sich englische Gesprächsfetzen in die Geräuschkulisse.
"Deine Hand", sagte der Mann zu Anja. Sie kam sich äußerst
veralbert vor und legte trotzdem ihre Hand auf den Tisch. Er drehte Anjas
Hand um, patschte seine Hand darauf und fing nun an, die Handflächen
aneinander zu reiben, wurde dabei immer schneller. Nach einer halben Minute
hielt er abrupt inne und nahm seine Hand ganz langsam von Anjas weg. Als
die Handflächen vielleicht einen Zentimeter voneinander entfernt waren,
schaute er sie erwartungsfroh an: "Na? - Na? - Na?" Anja war
sich offensichtlich nicht schlüssig, was er erwartete und lächelte
sicherheitshalber. Dann sah sie zu mir und meinte leise: "Das fühlt
sich schon irgendwie komisch an."
In der Tür zwischen den beiden Zimmern sah ich ein Gesicht wie
meins von der Seite, englische Wörter waren zu erahnen.
Er wirkte unzufrieden, wohl, weil Anja nicht aus dem Häuschen
geraten war, also legte er ihre Hand sanft ab und nahm meine, selbe Prozedur,
rubbeln, innehalten, theatralisch schauen und langsam lösen.
Seine Hand war ein Stückchen von meiner entfernt.
Es fühlte sich schon irgendwie komisch an.
Es fühlte sich an, als wäre noch etwas dazwischen. Und dieses
Etwas fühlte sich an wie ein bißchen Hand, oder überhaupt
wie ein bißchen Haut.
Ich war ja nicht doof, ich wußte, wie Projektorfolien aneinanderhaften
bleiben und Pullover beim Ausziehen knisterten, aber das war mehr.
Er zog seine Hand wieder zurück und nahm einen großen Schluck
Bier. Anjas Gesicht war ein Fragezeichen und der Mann war sichtbar erfreut,
daß wir ins Grübeln gekommen waren. Er verfiel in ein melodisches
Lamentieren, dem nicht nur wie vorher Syntax und inhaltlicher Aufbau abgingen,
sondern auch Verwandtschaft mit irgendeiner Sprache.
Das Einzige, was ich verstehen konnte, war "Orgon". Ich war mir nicht
ganz sicher, vor allem weil ich mich jetzt tagelang damit beschäftigt
hatte: Orgon war der Name, den Reich seinem Konzept von Lebensenergie,
vom lebendigen Medium gegeben hatte. Das hatte damals weniger mit Mythologie
oder einem Markennamen zu tun gehabt, als mit der Ableitung aus den beiden
Forschungsquellen Orgasmus und organisch. Das lebendige Medium kennzeichnete
das organische Leben und entlud sich in lustvoller körperlicher Betätigung,
behauptete Reich.
Und der Mann sagte es immer wieder. Eingebettet in ein sinn- und zusammenhangloses
Mantra, das er aber mit dem gleichen Gesichtsaudruck wie die ganze Zeit
zuvor absonderte.
Das Gesicht zwischen den Türrahmen war meins, soviel war jetzt
sicher. Und genauso wie das sich mittlerweile überschlagende hysterische
Lachen und das Brummen vom Nachbartisch war es unmöglich Produkt der
zwei Gin Tonics und des spendierten Biers.
Weder Anja noch ich hatten letztlich wirklich etwas gesagt, seit der
Mann aufgetaucht war, abgesehen von kurzen Verständnisversuchen wie
"Meinst du, daß... Ah-so."
So übergangslos er mit seinem Mantra begonnen hatte, fiel er jetzt
wieder in seinen normalen Ton zurück: "Bei de Amis... ich war ja Marine..
also noch früher.. bin ich zur Fremdenlegion, de Marines...
meine Frau hier zurückjelassen... bei de Amis Geld jemacht jelernt...
und du höre hier... Kampfausbildung wa NATO... komme zurück war
noch Osten... meine Frau mit meinem Bruder... glaubste nich... ich hatte
Geld... jeschickt die janze Zeit, viel Geld und denn Schiß wegen
Zurückkommen... und denn mit meim Bruder... sie ist dann an Krebs
jestorm und er geht am Stock" Ich spürte seine Hand immer noch und
zog zumindest in Betracht, daß sie wegen ihm mit Krankheit und Tod
geschlagen wurden.
Er schickte sich an zu gehen, wünschte uns auf seine Art noch
einen schönen Abend und sagte im Aufstehen: "Siehste nicht die Pyramide
in deinem eigenen?"
Ich zuckte zusammen und wunderte mich nicht mehr, als mein Gesicht,
mich grüßend, auch ging und nicht viel später, als Anja
und ich aufbrachen, mich ein lederbekleideter Motorradtyp von furchteinflößendem
Äußeren auf die Stirn küßte.
Es könnte alles falsch gewesen sein."
Entstanden im Sommer 1999: hier die ersten Kapitel zum Reinlesen.
"Melden beim Abschnittsbevollmächtigten"
"Vorsitzender des Staatsrats der DDR und Generalsekretär - hähä"
"Merk dir eins, Genosse, wir kämpfen fürn Frieden!"
"Große Sozialistische Oktoberrevolution" oder Ähnliches quakte und dann mit Kinderaugen die Reaktionen
erwartete. Offiziell blieben diese aus, aber praktisch verlor beispielsweise
diese in ein labskausfarbenes Stück Sofabezug gewickelte Frau beinahe
ihre Brille, als es hinter ihr "Pioniere und FDJler!" tönte.
Nach erstem Schreck ging das leichte Unbehagen in immer deutlicher
sichtbare Empörung über. "Planübererfüllung"
Der Alte hatte wahrscheinlich am Straßburger (hähä,
Fucikplatz!) ein paar Autos auf den Gleisen zusammenstoßen lassen,
damit das hier schön lange dauerte. Sonst waren die doch immer so
schnell weg. Und sonst schien es ja auch niemandem zu gefallen - tatsächlich
schien er mitbekom-men zu haben, und das war beachtlich, daß ich
eigentlich nur darauf wartete, daß er mir den Hut hinhielt, damit
ich etwas geben könnte.
Eine eingebeulte 2 kam und ich fuhr nach Hause.
In ähnlicher Weise war die Welt der zu entdecken-den Ideen aufgerüstet
worden: Es wimmelte vor Quantenphysik, Zen-Buddhismus, Umweltbewußt-sein
und wachem Individualismus. "Einstein würde sich in seinem Grabe umdrehen:
Gott würfelt nicht nur mit dem Universum, er schummelt sogar." Nietzsches
Homo Superior, der schaffende Über-mensch, stand auf dem Programm,
Lao-Tse und das Schweigen der Lämmer wurden zitiert. Wenn man die
verdammten Siedlereinheiten, die jetzt Former hießen, automatisierte,
damit man nicht mehr selbst Straßen und Bodenverbesserungen anlegen
mußte, dann machten sie das wirklich ganz allein und rodeten nicht
mehr sämtliche Wäl-der wie bei CivII.
Kurz, es war zum Bemachen.
Weil sie mit Gesetz verbunden
Denn ist beides nicht zur Hand
Wichst man auf den Tellerrand
Frauen lecken öffentlich
Und warum auch ainklich nicht?
GROUCHO: Nein, nein. Sie
dürfen nicht ge-hen und mich hier allein zurücklassen. Bleiben
Sie hier, dann kann ich gehen.
MRS. VANDERGRAFF: Ich weiß
wirklich nicht, was ich sagen soll.
GROUCHO: Gut, dann sagen
Sie, daß Sie für immer mir gehören oder für immer
die meine sind oder mein für immer. Das
Leben ist kurz, lassen Sie's
uns leben, denn schon morgen kann der
Herr des Hauses vor der Tür
stehen und die letzte Miete verlangen.
Ob sie das stört, daß sie dabei zuschaut? Ob es da-mals
gestört hätte? Augen statt Münder. Ist das peinlich? Denken
sie, daß das peinlich ist? Denken sie, daß ich denke, daß
es peinlich ist? Oder denke ich nur, daß sie das denken? Augen statt
Münder.
Es waren 7. Es gab 7 verschiedene Philosophien der Herangehensweise
auf Alpha Centauri. Gab es Übereinstimmungen mit dem Zettel?
Na klar: Morgans Witschaftsmonopolisten standen für den Zins,
das war recht eindeutig. Die Gaianerfraktion repräsentierte den Gegensatz
von Natur und Technik, okay. Weiter korrespondierten die UNO-Pazifisten
unter Bruder Lal für den erwachsenen Freien Willen. Die Gläubigen
und Schuld - paßte. Yangs Kollektivisten und Arbeit - auch. Die Planet-Universität
von Akademiemitglied Zakharov sahen nach dem Inbegriff von Expertenwissenschaft
aus. So, blieb für Ansteckung nur die Kriegerfraktion der Spartaner,
ergab das Sinn? Ich wußte noch nicht so recht, was mit Ansteckung
gemeint war.
Die Christen betrachten die menschliche Entfremdung letztlich als Erbsünde
und warten auf Erlösung von der Falle.
Reich selbst bot mehrere Antworten an, favorisierte zuletzt vor allem
die Überlegung, daß die Entwicklung des selbstbewußten
Denkens das Dilemma ausgelöst haben könnte. Die Fähigkeit,
lebendige Prozesse bewußt zu kontrollieren, wurde zu einem Zwang
und möglicherweise erkauft durch den Verlust an (unbewußter)
natürlicher Steuerung. Reich illustrierte diese Vorstellung durch
die Geschichte vom Tausendfüßler, der keinen Schritt mehr tun
kann, nachdem er zum ersten Mal darüber nachgedacht hat, wie er geht.
Als am Ausgang des 15. Jahrhunderts in Italien Tausende an Ausschlägen,
fieberhaftem Durchfall und Blutarmut erkrankten, gab es vor allem die moralische
Wertung, all das sei Folge von Wollust, die religiöse, die es als
Gottes Strafe für Sünden betrachtete, und die reduktionistisch
wissenschaftliche, die davon ausging, daß die Geschlechtsorgane aufgrund
ihrer lustvollen Benutzung allergisch reagierten. Man bezeichnete all diese
Krankheiten in einer Geschichte als Syphilis, erst Jahrzehnte später
wurde die bis dahin übliche Therapie des Auspeitschens und öffentlichen
Lynchens der kranken Sünder von Paracelsus durch die Gabe von Quecksilber
ersetzt. Diese wissenschaftliche Kur verursachte Nervenschäden und
Rückbildungen der Kieferknochen, die aber auf die Krankheit und damit
auf die Wollust zurückgeführt wurden.
Der durch die Erziehung in der gespaltenen Gesellschaft ohnehin von
sich und der Umwelt abgegrenzte Mensch wurde von der Infektionstheorie
und dem Rassismus noch weiter in sich zurückgeworfen. Jeder andere
konnte ein Ansteckungsherd sein, die erzieherische Prägung schien
sogar zu suggerieren, daß es einen Zusammenhang gab zwischen der
Aufregung und Lust des Kontakts mit anderen einerseits und der Gefährlichkeit
und dem Infektionsrisiko andererseits. Der Reiz des Exotischen nahm gleichzeitig
zu, die Phantasien über rassenübergreifenden Sex, die viele zur
See trieben, entluden sich später im Bumsbomber-Tourismus der Gegenwart.